Inwiefern sind Praktiken des Vergleichens von biologischen, anthropologischen oder kognitionspsychologischen Dispositionen und Operationen abhängig? Diese Frage stand im Zentrum der Midterm-Konferenz des Bielefelder SFBs „Praktiken des Vergleichens“. Der Forschungsverbund befasst sich weniger mit dem Vergleichen als wissenschaftliche Methode, sondern betrachtet das Vergleichen als eigenen Untersuchungsgegenstand und verfolgt dabei vor allem ein historisches Erkenntnisinteresse. Von der Kommunikation habe sich das Interesse zu den Praktiken des Vergleichens verschoben, erklärte ANGELIKA EPPLE (Bielefeld), die Sprecherin des SFBs, in ihrer Begrüßungsrede: Es gebe verschiedene Methoden des Vergleichens in den Wissenschaften, die auf unterschiedliche Art und Weise zur Erzeugung von Evidenz und Objektivitätseffekten angewandt würden und sich veränderten. Ein Blick auf die konkreten Praktiken könne auch Aufschluss darüber geben, welche Theorien des Wandels ihnen eingeschrieben seien sowie über die beteiligten menschlichen wie nicht-menschlichen Akteure des Vergleichens. Die Tagung zielte deshalb darauf ab, nun auch den (evolutions-)biologischen, anthropologischen, neuronalen und kognitiven Implikationen des Vergleichens nachzugehen. In Auseinandersetzung mit der von Charles Percy Snow geprägten These der zwei Kulturen beabsichtigte die Konferenz, im Sinne der Interdisziplinarität, das gemeinsame Interesse der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften für die Praktiken des Vergleichens zusammenzuführen.
HERIBERT HOFER (Berlin) legte anhand verschiedener Beispiele (unter anderem dem Europäischen Kuckuck, dem Goldkuckuck, der grauen Mausmaki oder der Tüpfelhyäne) dar, dass Vergleichen eine lebensnotwendige Fähigkeit sei. Vergleichen sei Teil des Adaptionsverhaltens von Tieren: Vergleiche würden präziser, wenn Fehler Konsequenzen tragen. Das habe mit dem Optimalitätsprinzip zu tun, demzufolge Tiere kognitiv versuchten, den Nutzen von Aktivitäten größer als die Kosten zu gestalten – insofern eröffne Vergleichen Lerneffekte. Einen ähnlichen Stellenwert maß KLAUS REINHOLD (Bielefeld) dem Vergleichen innerhalb der Evolutionsbiologie bei. Muskelaktivitäten, Sinneswahrnehmungen und Verhalten sowie die Partnerwahl von Tieren (zum Beispiel Hirsche, See-Elefanten oder Pfauen) seien Ergebnisse von Vergleichen. Diese würden mit der Evolution zusammenhängen, die zu einer Optimierung von Vergleichsergebnissen führe. Sowohl Hofer als auch Reinhold regten die visuell orientierten, empirischen Wissenschaften zu einer stärkeren methodologischen Reflexion über das Vergleichen an, insbesondere bezüglich der Akteure im Feld, des Zusammenhangs mit verwandten Praktiken wie Musterbildung (Scoring), der Identifikation von Einzeltieren oder des Umgangs mit Prüfstatistiken und Messwerten. In seinem Abendvortrag bezog sich WALTER ERHART (Bielefeld) auf eine Forschungsgruppe am Primatenzentrum in Göttingen, die sich mit den biologischen Grundlagen des sozialen Vergleichens beschäftigt hat und brachte deren Ergebnisse mit einer Erzählung von Franz Kafka in Verbindung.1 Besagte Gruppe hatte Thesen aus der social-comparison-Forschung bei der Übertragung auf Primaten nicht bestätigt gesehen. Anstatt für eine Sonderstellung des Menschen zu argumentieren, machte Erhart unter Bezugnahme auf Carl Hagenbecks Von Tieren und Menschen2 und Kafkas Ein Bericht für eine Akademie3 die meist verborgenen, anthropologischen Maßstäbe des Vergleichens solcher Übertragungsversuche deutlich. Er problematisierte die Selbstverständlichkeit von Mensch-Tier-Vergleichen und betonte, es würde sich mit dem Vergleichen die aristotelische Grundfrage nach der Bedeutung der Nachahmung für die Kultur stellen.
CHRISTIAN POTH (Bielefeld) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf Vergleichsprozesse in der visuellen Wahrnehmung und Objekterkennung. Poth erläuterte, dass das Vergleichen am Sehen und der Handlungssteuerung beteiligt sei, sowohl am Erkennen visueller Merkmale zur Objekt-Kategorisierung und der Figur-Grund-Trennung als auch an der Integration oder Nicht-Integration visueller Informationen. In seinem Vortrag machte OLIVER LUBRICH (Bern) auf die Wichtigkeit des Vergleichens in Alexander von Humboldts Werk aufmerksam, bei dessen Reisen und wissenschaftlichem Vorgehen sich eine „globale Komparatistik“ entwickelt habe. Lubrich differenzierte das Vergleichen auf verschiedenen Ebenen als Wahrnehmungsmodus während der Reise, als literatur-, kunst- und medienbezogene Praktiken, sowie als ethnographische und naturwissenschaftliche Vorgehensweisen – die Triangulierung sei dabei eine Kernmethode der Humboldtschen Vergleichspraxis. MARTINA KING (Fribourg) beschrieb die historische Entstehung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Dabei fokussierte sie die Vergleichsmethodik innerhalb der Naturgeschichte um 1800 entlang von Arten- und Merkmalskategorisierungen. Laut King gebe es eine Bewegung von deskriptiv-phänomenologischen Vergleichspraktiken (Zoographie), die eher koinzidente Ergebnisse hervorbrächten und nur über eine geringe Erklärungskraft verfügten, hin zu regelgeleiteten, validierbaren Vergleichspraktiken (aktualistische Geologie) mit einem Funktionalismus-Begriff und der Methode des Experimentierens (Vergleichende Anatomie). Dabei deutete sie mit Verweisen auf die literarischen Soziographien um 1830 die Vergleichende Anatomie als Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und Literatur.
ANIL BHATTI (Neu Delhi) situierte in seinem Beitrag das Vergleichen zwischen dem Differenz- und Ähnlichkeitsparadigma. In mehrsprachigen Ländern wie Indien gebe es viele Formen der Diversität und entangled histories, die nicht zwangsläufig zu Differenz führten. Das Differenzdenken sei durch die Ideologisierung des Vergleichens im Zuge des Kolonialismus sowie der Nationalstaatsbildung gestärkt worden. Bhatti sprach sich für eine Entideologisierung des Vergleichens und das Recht auf Ähnlichkeit aus. Diese Praxis des Vergleichens könne der Versuch sein, neue Solidaritäten und Möglichkeiten des Zusammenlebens zu finden. Ausgehend von Claude Lévi-Strauss und François Jullien diskutierte ARNE KLAWITTER (Kyoto) Methoden des Kulturvergleichs und Problematiken der Kulturhermeneutik an den Beispielen Chinas und Japans. Er kritisierte Praktiken der Kulturvergleiche, die von einem universellen Strukturalismus oder einem zentrifugalen Subjekt ausgingen, da diese angesichts der Frage nach der Objektivität von Vergleichen und dem Umgang mit Inkommensurabilitäten an ihre Grenzen stoßen würden. Stattdessen brachte Klawitter den Begriff des „Entgleichens“ ein, der anstelle von Oppositionen das Denken in Feldern neuer Differenzierungen präferiert und der die eigenständige Kohärenz des Anderen wahrt.
Während es in den Positionierungen zu und Lektüren von Snows These der zwei Kulturen durchaus Unterschiede gab, waren sich die TeilnehmerInnen der abschließenden Podiumsdiskussion über die Produktivität der Praktiken des Vergleichens einig und bestärkten die methodischen, gesellschaftlichen, epistemischen und institutionellen Impulse für eine interdisziplinäre Diskussion. MARIE KAISER (Bielefeld) sah im Vergleichen eine Möglichkeit, eine produktive methodische Diskussion zwischen den Wissenschaften anzustoßen. Sie wendete gegen Snows Zwei-Kulturen-These ein, dass es zwar zentrale Unterschiede verschiedener Fachkulturen gebe, diese aber nicht zu Abgrenzungen oder Abwertungen verhärtet werden dürften. Häufig seien Unterschiede innerhalb einer Fachkultur sogar größer als die zu anderen Fachkulturen. Stattdessen, so Kaiser, seien Fachkulturen eher widerständig gegenüber einer kategorischen Trennung und man solle doch eher komplementäre Fragestellungen herausstellen. HANS-JÖRG RHEINBERGER (Berlin) kontextualisierte Snows These noch einmal historisch und politisch mit dem Sputnikschock sowie dem Kalten Krieg. Er wies darauf hin, dass Snow eine Überbrückung der zwei Kulturen für notwendig hielt, da Interdisziplinarität eine intellektuelle Ressource der Gesellschaft sei. Auch für einen interdisziplinären Dialog müsse das Vergleichen zumindest analytisch auf drei Ebenen unterschieden werden, nämlich nach Sinneswahrnehmungen oder Beobachtungen von Individuen im Feld, nach oftmals unbewussten oder unausgesprochenen Alltagspraktiken sowie nach epistemischen Verfahren wissenschaftlicher Praxis. STEFAN WILLER (Berlin) wies auf den Status von Snows The Two Cultures zwischen den Disziplinen hin und hob dessen konkrete Aufforderungen und Praktiken des Vergleichens hervor. Vielleicht sei das Vergleichen selbst das vermittelnde Dritte zwischen den Wissenschaftskulturen, das einerseits in einem Parallelisieren oder Nebeneinanderstellen (szientifische Kultur) und andererseits in einem Angleichen oder Ähnlichkeitsprozess (literarische Kultur) zusammenkomme. JOHANNES GRAVE (Bielefeld) bemerkte, dass Snows Beitrag vor allem von scientific und literary cultures spreche, aber es gerade in der Vorgeschichte der Kunst- und Bildwissenschaften eine evidente Nähe zu naturhistorisch-deskriptiven Praktiken der „Naturkunde“ gebe, die allerdings mit dem funktionellen Organismus-Begriff zunehmend brüchig werde. Außerdem gab er zu bedenken, dass Praktiken des Vergleichens in institutionellen Kontexten, wie etwa bei Begutachtungs- und Evaluationsverfahren, zwar formell für verschiedene Disziplinen stabilisiert werden könnten, dass sie aber in actio unterschiedlich gefüllt würden. In einer nicht essentialisierenden sondern praxistheoretischen Betrachtung der Fachkulturen würde die Stärke dieser Verfahren liegen.
Insgesamt hat die Konferenz das gemeinsame, interdisziplinäre Interesse für die Praktiken des Vergleichens bestätigt. Gerade die verschiedenen methodischen Zugänge zum Vergleichen innerhalb der Disziplinen haben die Notwendigkeit für weitere produktive wie synthetisierende Ansätze deutlich gemacht. Inwiefern Darwins Evolutionsbegriff als Theorie des Wandels, die den Vergleichspraktiken innerhalb der Biologie eingeschrieben ist, als Selektionsmechanismus auch innerhalb der Geisteswissenschaften funktionieren kann, bleibt zu diskutieren. Der voraussetzungsvolle und nie neutrale Vergleichsprozess aber, in dem er Grenzen setzen und auch überschreiten kann, vermag in diese Richtung Antworten bereitzuhalten.
Konferenzübersicht:
Angelika Epple / Walter Erhart (beide Bielefeld): Begrüßung und Einführung
Heribert Hofer (Berlin): Vergleichen – Interdisziplinär: Von den Objekten zu den Akteuren
Oliver Lubrich (Bern): Humboldtsche Wissenschaft als globale Komparatistik?
Martina King (Fribourg): Tasthaare, Gesteinsschichten, Damenmoden: Epistemologie des Vergleichens zwischen Natur und Kultur – um und nach 1800
Klaus Reinhold (Bielefeld): Leben heißt vergleichen. Partnerwahl und andere Entscheidungen
Christian Poth (Bielefeld): Vergleichsprozesse in der visuellen Wahrnehmung
Walter Erhart (Bielefeld): “Do Monkeys Compare Themselves to Others?” Zwischenbericht für eine Akademie
Anil Bhatti (New Delhi): Vergleichende Sichtweisen und Ähnlichkeitsgedanken
Arne Klawitter (Kyoto): Vergleichen in Ostasien. Ortswechsel im Denken bei Claude Lévi-Strauss und François Jullien
Podiumsdiskussion
Johannes Grave / Marie Kaiser (beide Bielefeld) / Hans-Jörg Rheinberger / Stefan Willer (beide Berlin): Zwei Kulturen?
Anmerkungen:
1 Vanessa Schmitt / Ira Federspiel / Johanna Eckert / Stefanie Keupp / Laura Tschernek / Lauriane Faraut / Richard Schuster / Corinna Michels / Holger Sennhenn-Reulen / Thomas Bugnyar / Thomas Mussweiler / Julia Fischer, Do monkeys compare themselves to others?, in: Animal Cognition 19 (2016), S. 417-428, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4751161/ (11.04.2019).
2 Carl Hagenbeck, Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen, Berlin 1909.
3 Franz Kafka, Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, Leipzig 1920.