Die Vorstellungen von Sklaverei und das hierüber vorherrschende Bild sind geprägt von der Plantagensklaverei des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts. Zu dieser Form der Unfreiheit und Arbeit wurden etwa 12,5 Millionen Frauen, Männer und Kinder aus dem afrikanischen Subsahararaum und Zentralafrika gezwungen. An der afrikanischen Westküste wurden sie im Kontext des vormodernen europäischen Versklavungshandels verkauft und als Sklav/innen in die Amerikas und die Karibik verschleppt.1 Die Erforschung der Sklaverei ist ein zentrales Themengebiet in der Globalgeschichte. Hierbei steht häufig die Plantagensklaverei im Zentrum und es wird der Versuch unternommen eine universelle Definition von „Sklaverei“ zu entwickeln. Doch obwohl diese Form der Versklavung sehr bedeutend war und noch heute für die Forschung ist, stellt sie nicht die einzige Art von Unfreiheit in der Geschichte menschlicher Gesellschaften dar. Das Forschungsgespräch in Wien beschäftigte sich daher kritisch mit Überlegungen zu der Notwendigkeit einer solchen allgemeinen Definition von Sklaverei und problematisierte diese. Das Spektrum der vorgestellten Formen von Unfreiheit und erzwungener Arbeit reichte vom sechsten Jahrhundert v. Chr. in Babylonien bis zum heutigen Brasilien. Zugleich wurde in Anlehnung an die Untersuchungen von Joseph Miller2 und Claudio Costa Pinheiro3 erörtert, ob und wie mit einem mikrohistorischen Methodenansatz und einer umfassenden linguistischen Analyse diverse Formen von Unfreiheit und davon betroffene Menschen sichtbar gemacht werden können. Eine weitere Forderung war die historische Forschung und deren Sprache zu dekolonisieren.
JULIANE SCHIEL (Wien), Organisatorin des Forschungsgesprächs Globalgeschichte, leitete die Veranstaltung ein mit Bezugnahmen auf postkoloniale Forderungen nach der gleichberechtigten Neuausrichtung des empirischen Vergleichs zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden und über die Zeitbereiche hinweg. Im Anschluss an Dipesh Chakrabarty rief sie dazu auf, das transatlantische Modell der Plantagensklaverei als „theoretical subject of all histories of slavery“4 zu hinterfragen und die eigenen analytischen Kategorien und konzeptionellen Annahmen sehr viel grundsätzlicher zu reflektieren. In Anlehnung an Suzanne Miers und Igor Kopytoff5 sowie James L. Watson6 forderte Schiel eine radikale Kontextualisierung und fragte: „How can we actually speak about ‚slavery‘ outside the ‚think box‘ of the modern West?“ Joseph C. Millers Analysen der Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen der Finanzierung und den Investitionen in Praktiken der Versklavung und des kapitalistischen Wirtschaftssystems könnten hier Vorbildfunktion haben. Das „slaving“7, also die Sichtbarmachung der Strategien von Versklavenden und Versklavten, müssten als Untersuchungsgegenstand gegenüber der allgemeinen Diskussion zu abstrakten, universellen „Sklaverei“-Konzepten stärker ins Zentrum rücken. Zudem sei neue empirische Forschung zu nicht-transatlantischen Formen des „slaving“ wichtig, um die Basis für einen globalen, diachronen Vergleich zu schaffen.
DIRK HOERDER (Bremen/Arizona) unterstrich Schiels Forderungen. Er zeigte nicht nur unterschiedlichste Formen und Bezeichnungen von „slavery“ in vielen Weltregionen und Epochen auf, sondern forderte auch, dass bisher verwendete Begrifflichkeiten kritisch zu hinterfragen seien. Die Herrschaftsverhältnisse und Beziehungen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten seien zudem in den Fokus zu nehmen. Er erinnerte daran, dass auch die jeweilige Ausrichtung der Forschungslandschaft zu reflektieren und Sklaverei im Spannungsfeld der Geschichte der Arbeit und der (Zwangs-)Migration zu betrachten seien. Als Fazit merkte Hoerder an, dass alle Gesellschaften aus unfreier Arbeit und (Zwangs-)Migration entstanden seien.
Nach dieser konzeptionellen Diskussion zum forschungspraktischen Umgang mit einer universellen, im globalen Westen entstandenen und geprägten Definition von „slavery“ wurden vier Fallstudien aus unterschiedlichen Zeitbereichen und Weltregionen vorgestellt. REINHARD PRINGRUBER (Wien) stellte Formen der Abhängigkeit und Unfreiheit im antiken Babylon vor, wobei er sich auf das sechste Jahrhundert v. Chr. konzentrierte. Er brachte wirtschaftliche Aspekte, Urbanisierung, die Spezialisierung von Arbeitsprozessen, Krieg und Kriegsgefangenschaft in einen Kontext mit Formen von Versklavung und Unfreiheit. Es gebe verschiedene Begriffe für unterschiedliche Formen von Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die dem Überbegriff Sklaverei zuordenbar sind. Besonders hervorgehoben und verglichen wurden dabei die Begriffe quallu/quallatu (Sklav/in in privatem Besitz) und širku (Tempeldiener/in). Beide Personengruppen waren gezwungen unfreie Arbeit zu leisten, unterlagen Bewegungseinschränkungen und konnten für Tätigkeiten vermietet werden, alle anderen Konditionen und rechtlichen Regelungen waren jedoch grundverschieden. Pringruber stellte fest, generell sei zwar mit dem Wirtschaftswachstum auch die Nachfrage nach Sklav/innen angestiegen, dennoch war deren Anzahl gering. Überwiegend habe die Versklavung in wohlhabenden Haushalten stattgefunden. Auch der Handel mit versklavten Menschen sei kein wichtiger Wirtschaftsfaktor gewesen. Mit Bezug auf Miller kam Pirngruber zu dem Schluss, dass es verzerrend sei über die Begrifflichkeiten und Bedingungen im Babylonien des sechsten Jahrhunderts v. Chr. eine allgemeine Definition von Sklaverei erarbeiten zu wollen. Denn dadurch würde ein Randphänomen den Begriff und den Blick auf die Gesellschaft prägen.8 Vielmehr solle nach den historischen Strategien und Prozessen des „slaving“ gefragt werden. Eine universelle Definition von „slavery“ sei dabei wenig hilfreich, da diese die spezifischen Formen des „slaving“ überdecke.
MAGDALENA MOORTHY-KLOSS (Wien) brachte mit ihrem Vortrag über Eunuchen im 12.–17. Jahrhundert in Jemen, die Frage nach Geschlecht und sozialem Status in die Diskussion ein. Sie erläuterte, dass es bei Eunuchen in Jemen zwar um Sklaven und auch den Handel mit Sklaven aus Ostafrika gehe, die Kinder von ihren Eltern aber häufig „aus eigenem Antrieb“ in diese Art der Sklaverei verkauft wurden. Dies sei geschehen, obwohl der medizinische Eingriff der Kastration lebensgefährlich war. Erklärbar ist dies, weil damit eine sehr gute Ausbildung und ein einflussreiches Amt am Hof des Sultans verbunden sein konnte. Anhand eines Einzelfalls vollzog Moorthy-Kloss nach, wie ein Kind in Ostafrika kastriert und nach Jemen gebracht wurde, und dort die Sprache des Haushalts lernte, in dem das Kind dienen sollte. Am Hof des Herrschers übte diese Person im Amt des Eunuchen administrative Ämter im Bereich des Militärs, der Aufsicht über andere Sklav/innen des Palasts und über die Finanzen aus. Zudem waren dieser Person die Aufsicht über den Harem und die Erziehung der Kinder anvertraut. Bei einer Abwesenheit des Herrschers, vertrat der Eunuch diesen. In einer solchen Position war die Person zwar unfrei, hatte aber zugleich direkten Zugang zur Familie des Sultans, beeinflusste dessen Politik und das Geschehen im Palast. Fallstudien zum Leben und Wirken von Eunuchen könnten die Erkenntnisse über das Leben in und die Organisation eines Harems aber auch die Praktiken der Kindererziehung am Hof eines Sultans bereichern. Mit Bezug auf Miller plädierte Moorthy-Kloos für eine umfassende Kontextualisierung sowohl der Versklavenden als auch der Versklavten. Deren Erfahrungen mit der Versklavung und die Reaktionen darauf sowie die vielen verschiedenen zeitlich gebundenen Formen und Umstände der Versklavung sollten im Zentrum des Interesses stehen.
JOSEF KÖSTLBAUER (Bremen) machte in seinem Vortrag auf verschiedene Probleme aufmerksam, die ihm im Kontext seiner Forschung zum Umgang der missionierenden Herrnhuter Brüdergemeine (Moravians) im globalen langen 18. Jahrhundert aufgefallen sind und die mit einer universellen, westlich geprägten Definition von Sklaverei nicht zu fassen seien. Köstlbauer verfolgt einen mikrohistorischen Methodenansatz und setzt auf die umfassende Kontextualisierung des historischen Materials und der darin abgebildeten Praktiken der Versklavung und Unfreiheit. Hierbei werde deutlich, dass häufig der Rechtsstatus einer Person oder deren Bezeichnung als „Sklav/in“ im historischen Material unerwähnt bleiben. Dies sei auch dann der Fall, wenn eine Person von einem Territorium, in dem Sklaverei legitim war in ein anderes kam, in dem Sklaverei zwar nicht praktiziert wurde aber dennoch nicht abgeschafft war. Er stellte fest, dass Unfreiheit verschiedene Formen haben konnte und diese Formen an den jeweiligen Ort gebunden gewesen seien. So kann Köstlbauer nachweisen, dass versklavte Personen ab 1738 im Besitz einer Herrnhuter Mission auf St. Thomas waren und dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts versklavte Menschen aus der Karibik und den Amerikas nach Europa (und ggf. auch wieder zurück) reisten. In Niederlassungen der Gemeine wie Herrenhut oder Zeist konnten diese unfreien Personen einerseits getauft und gut in das Leben der Gemeine integriert, wichtige Funktionen in der Gemeine ausfüllen und andererseits dennoch Eigentum der europäischen Brüder und Schwestern sein. Sie waren lebende Symbole, die mit ihrer „Repräsentationsarbeit“ den Missionserfolg der Gemeine darstellten. Trotz dieser wichtigen Funktion für die Gemeine, konnten diese Personen nicht frei über ihren Verbleib in der Gemeinschaft entscheiden, wie dies europäische Mitglieder konnten. Besonders bei Kindern, die aus kolonialen Kontexten in die Gemeine gebracht wurden, sei der rechtliche Status ambig geblieben. Dadurch ergebe sich eine Lücke im historischen Material, mit der ein Umgang gefunden werden muss. Köstlbauer forderte, dass Definitionen dem Untersuchungsgegenstand angepasst und die Bedeutung von Begriffen in ihren jeweiligen Bedeutungsbereichen und -räumen analysiert werden müssten, damit die Lücken markiert werden können.
JULIA HARNONCOURT (Wien) stellte Ergebnisse ihrer Forschung zu unfreier Arbeit in der gegenwärtigen brasilianischen Landwirtschaft vor.9 Als „Trabalho Escravo“ (Sklavenarbeit) werden die Arbeitsbedingungen in Brasilien bezeichnet. Hierbei gehe es um Arbeitsverhältnisse, bei denen es den Arbeitern an lebensnotwendigen Dingen fehle. Gewöhnlich nähmen die Männer (Harnoncourt geht von max. 2% Frauen aus) diese Arbeit an, weil sie keine andere Möglichkeit sehen Geld zu verdienen. Sie werden in den Dschungel gebracht, abgeschnitten von Familie und Freunden, orientierungslos. Die Unterkünfte seien überfüllt, aus schwarzem Plastik, es müssten verdorbene Lebensmittel von den Arbeitern gekauft und verzehrt werden. Es gäbe kaum und nur unzureichende sanitäre Einrichtungen und keine medizinische Versorgung. Personen, die fliehen wollten, würden erschossen und in versteckten Gräberfeldern vergraben. Die Arbeiter müssten oft bis zu drei Monate länger bleiben als vereinbart. Harnoncourt berichtete von Interviews mit Arbeitern, die diese Arbeitsbedingungen überlebt haben. Die Menschen hätten häufig Angst und Scham dabei empfunden, über ihre Erlebnisse in der Unfreiheit zu sprechen. Die Referentin legte dar, dass es problematisch sei, diese unfreie Arbeit in der Landwirtschaft als „Trabalaho Escravo“ zu beschreiben, da zum einen eine eindeutige und beständige Rechtsnorm fehle und zum anderen die Personen, die diese Verhältnisse überlebt hätten, nicht als Sklaven bezeichnet werden wollten, dennoch befürworte sie die Verwendung des Begriffs in diesem Kontext. Offiziell liege „Trabalho Escravo“ vor, wenn die Arbeiter/innen den Arbeitsplatz nicht verlassen dürften, die Arbeitstage erschöpfend und die Arbeitsbedingungen entwürdigend seien. Gerade die beiden letzten Punkte seien jedoch dehnbar und schwer fassbar. Zudem sei Sklaverei in Brasilien mit dem historischen Bild von Arbeitern in Ketten besetzt. Sklaverei werde als inkompatibel mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem und als ein lebenslanges Verhältnis vorgestellt. Während die geschilderten Arbeitsbedingungen als „Trabalho Escravo“ bezeichnet würden, werde die Arbeit im Dschungel nicht derartig betitelt. Abschließend fragte die Referentin, wie mit dieser Diskrepanz umzugehen ist und welche Definition zur Anwendung kommen sollte. Harnoncourt betonte, dass es grundlegend sei, die umfassende Struktur der Arbeitsbedingungen und die Familien der Arbeiter einzubeziehen.
Das Ringen um Begriffe, Konzepte und Definitionen von Sklaverei und deren erkenntnistheoretische Chancen und Fallstricke für kontextualisierte mikrohistorische und historisch-semantische Analysen prägte alle Vorträge und Diskussionen. Dieses Spannungsverhältnis findet ebenso Niederschlag in meiner eigenen Untersuchung über verschleppte Menschen in den Niederlanden im langen 18. Jahrhundert. Es war deshalb überaus bereichernd, die verschiedenen Fallstudien mit konzeptionellen Überlegungen zu kombinieren.
Während des eintägigen Forschungsgesprächs wurde bestätigt, was Juliane Schiel eingangs zur Diskussion stellte: mit einer universellen Definition lassen sich die vielschichtigen Logiken extremer asymmetrischer Abhängigkeit und unfreier Arbeit im globalen, diachronen Vergleich nicht adäquat abbilden. Die Umwandlung oder Umbenennung eines unfreien Rechtsstatus in einen anderen verschleiert die dahinterliegenden Strukturen und macht eine ganze Bandbreite von vergangenen und gegenwärtigen Formen des „slaving“ unsichtbar. Radikal kontextualisierte mikrohistorische und historisch-semantische Fallstudien hingegen, vermögen eben diese Verwandtschaften und Transformationen in den Abhängigkeitsverhältnissen sichtbar zu machen, selbst dann, wenn das Wort Sklaverei nicht genannt wird. Dieser Ansatz verspricht viele neue Erkenntnisse und kann zudem im Sinne von Miller’s Forderung „humanizing the enslaved“ die Marginalisierten stärker ins Zentrum rücken.
Konferenzübersicht:
Juliane Schiel (Wien, Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte): Slaveries and Slaving Practices in Global Perspective. An Introduction
Dirk Hoerder (Bremen/Arizona): Comment
Case Studies I.
Reinhard Pirngruber (Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Österreichisches Zentrum für Digitale Geisteswissenschaften): Dependency in the Ancient World: The Case of First Millenium BCE Babylonia
Magdalena Moorthy-Kloss (Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Soziale Anthropologie): Slaves in Medieval Yemeni Texts (ca. 12th to 15th centuries)
Case Stadies II.
Josef Köstlbauer (Bremen, Universität Bremen, ERC Consolidator Grant Project „German Slavery“): Ambiguous Silence: Slaves and Slavery in 18th Century German Sources
Julia Harnoncourt (Wien, Universität Wien, Institut für Geschichte): Slavery, Trabalho Escravo, Unfree Labour: A Case Study on Brazilian Agriculture
Anmerkungen:
1 David Eltis, Methodology. Coverage of the Slave Trade. https://www.slavevoyages.org/voyage/about (06.05.2019).
2 Joseph C. Miller, Epilog. Appreciation and Response: Historical Paths Forward from Here, in: Journal of Global Slavery 2 (2017), S. 337–377.
3 Cláudio Costa Pinheiro, Blurred Boundaries. Slavery, Unfree Labour and the Subsumption of Multiple Social and Labour Indetities in India, in: Marcel van der Linden / Prabhu P. Mohapatra (Hrsg.), Labours Matters. Towards Global Histories. Studies in Honour of Sabyasachi Bhattacharya, New Delhi 2009, S. 173–194.
4 Dipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History. Who Speaks for “Indian” Pasts? in, Representations 37 (1992), S. 1–26, hier: S. 1.
5 Suzanne Miers / Igor Kopytoff, Slavery in Africa. Historical and Anthropological Perspective, Madison 1977.
6 James L. Watson, Asian and African Systems of Slavery, Berkeley 1980.
7 Miller, Epilog.
8 Joseph C. Miller, The Problem of Slavery as History. A Global Approach, Yale 2012, S. 46.
9 Julia Harnoncourt, Unfreie Arbeit. Trabalho escravo in der brasilianischen Landwirtschaft, Wien 2018.