Regionalität und Globalität in der jüngsten Zeitgeschichte Europas. Vermessung eines neuen Forschungsfeldes

Regionalität und Globalität in der jüngsten Zeitgeschichte Europas. Vermessung eines neuen Forschungsfeldes

Organizer(s)
Christian Rau / Thomas Schlemmer / Martina Steber, Institut für Zeitgeschichte München/Berlin; Malte Thießen, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster; Kirsten Heinsohn, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Location
München
Country
Germany
From - Until
12.09.2019 - 13.09.2019
Conf. Website
By
Christina Rothenhäusler, Dokumentation Obersalzberg, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Mit dem Bedeutungsgewinn des Globalen geht der Bedeutungsgewinn des Lokalen und Regionalen einher. Das zeigen nicht nur aktuelle Debatten über den Heimatbegriff, dessen Konjunktur als eine Folge von Globalisierungsprozessen verstanden werden kann. Vielmehr liegt der Bedeutungszuwachs des Regionalen bereits in den Prozessen der Globalisierung selbst begründet, die sich im Lokalen als „Mikroerscheinungsform des Globalen“ (Roland Robertson) manifestieren. Mit Verschränkungen des Globalen und Lokalen, für die Robertson den Begriff der „Glokalisierung“ prägte, befasste sich der Workshop am Institut für Zeitgeschichte in München.

Der interdisziplinäre Workshop setzte sich zum Ziel, bislang unverbundene Forschungsfelder sowie fachspezifische Theorie- und Methodendiskussionen miteinander in Beziehung zu setzen, wie Christian Rau (Berlin) und Martina Steber (München) nach der Begrüßung durch Thomas Schlemmer (München) einführend erläuterten. Ausgehend von global-regionalen Raumdynamiken fragte der Workshop nach den Wirkungen, den Impulsen und den Veränderungspotenzialen, die von den vielschichtigen Globalisierungen seit den 1970er-Jahren ausgehen und in global integrierte Gesellschaften hineinwirken. Globalisierungsdynamiken des 19. Jahrhunderts stellten dabei eine wichtige Vergleichsfolie zur Schärfung epochenspezifischer Phänomene dar. Vier Frageachsen strukturierten den Workshop: Erstens ging es um die Analyse der interdependenten Verhältnisse, Verschiebungen und Neujustierungen lokaler, regionaler, europäischer und globaler Ebenen. Zweitens untersuchte der Workshop die Rolle raumbildender Faktoren und -gestaltender Akteure in der Neu- und Rekonfiguration von Räumen. Die Vorstellung von Globalisierung als „unbestimmtem Großnarrativ“ sollte drittens hinterfragt, das „globalgeschichtliche Paradigma der Konnektivität“ viertens weiter differenziert werden. Diese Fragen seien insbesondere vor dem Hintergrund globaler Verdichtung, Vernetzung und Interaktion, der Pluralisierung des Lokalen und Regionalen sowie Prozessen der (Ent-)Territorialisierung relevant.

Das erste Panel untersuchte Verräumlichungsprozesse aus globalgeschichtlicher Perspektive. GEERT CASTRYCK (Leipzig) analysierte, inwieweit Imperialismus und Kolonialismus globale Raumordnungen bis heute prägen. Am Beispiel des Grenzgebiets zwischen Deutsch-Ostafrika und dem Kongo-Freistaat zeigte er, dass imperialistische Grenzziehungen in der kolonisatorischen Praxis nur mithilfe lokaler Verbündeter durchgeführt werden konnten. Diese seien mit den örtlichen Räumlichkeiten, aber auch mit der „feinmaschigen Textur des Kolonialismus“ vertrauter gewesen als die Kolonisatoren. Trotz der Abhängigkeit letzterer vom Wissen lokaler Akteure trugen die Grenzziehungen zur Etablierung kolonialer Strukturen und Asymmetrien bei, die in ihren globalen Verflechtungen bis heute nachwirken.

BERNHARD GIßIBL (Mainz) nahm Verräumlichungsprozesse am Beispiel der Rekonfiguration von Naturräumen in den Blick. Europäische Wildnis-Diskurse seit den 1990er-Jahren lassen die Bedeutungsverschiebung des Wildnis-Begriffs erkennen. Wildnis werde zunehmend als Prozess und Ziel zukünftiger Entwicklung verstanden, wie die Analyse der global operierenden NGO „Rewilding Europe“ zeige. An Wildnis-Diskursen ließen sich Transformationen globalisierter Diskurse nachvollziehen, die indigene, ländliche, lokale oder nicht-elitäre Naturkonzepte bis heute ausblendeten. Weiterer Forschung bedürften insbesondere lokale Rezeptionskontexte sowie unterschiedliche Zeitlichkeiten und Chronoreferenzen.

Die in der ersten Sektion behandelten Verräumlichungsprozesse bezog Martin Rempe (Konstanz) in seinem Kommentar auf gegenwärtige, weiterhin von imperialen Strukturen geprägte Raumvorstellungen. In der anschließenden Diskussion wurden Forschungsdesiderate aufgezeigt, beispielsweise Bottom-up-Prozesse wie Rückwirkungen des Lokalen auf das Globale und die Konflikthaftigkeit von Raumvorstellungen.

An solche Fragen nach Gegenläufigkeiten knüpfte ROLAND WENZLHUEMER (München) in seinem Vortrag über Diskonnektivität in Globalisierungsprozessen an. Die Globalgeschichte habe sich vielfach Prozessen der Vernetzung, der Verflechtung und des Austauschs, weniger hingegen dem Phänomen der Diskonnektivität gewidmet. Die Untersuchung von Umwegen, Unterbrechungen und Abwesenheiten erweitere den Blick auf das Ungeplante, auf Stagnation und Verzögerungen in Globalisierungsprozessen sowie auf die „active absence“ (Greg Dening) von Verbindungen. Die Potenziale eines solchen Ansatzes zeigte der Referent am Beispiel von Kommunikationsnetzwerken sowie Handels- und Migrationsrouten auf.

Der in Abwesenheit des Referenten verlesene Vortrag von BERNHARD C. SCHÄR (Zürich) untersuchte (Dis-)Konnektivität am Beispiel des von den Niederlanden angeworbenen Schweizer Söldners Louis Wyrsch. Zwischen 1825 und 1832 war er auf Borneo eingesetzt. Seine beiden mit seiner Nyai (Haushälterin) dort gezeugten Kinder nahm er bei seiner Rückkehr in die Schweiz mit, verschleierte jedoch zeitlebens ihre Herkunft. Als Politiker und einer der Gründerväter der modernen Schweiz (re-)produzierte Wyrsch Prozesse der Intensivierung nationaler und regionaler Identitätskonstruktionen in der Schweiz, die bis heute mit der Ausblendung imperialer Verbindungen einhergehen. Das Fallbeispiel zeige die Bedeutung älterer Schichten von Glokalisierung und verdeutliche die glokalisierende Wirkung europäischer Kolonialreiche.

Stephan Scheuzger (Bern) plädierte in seinem Kommentar für eine konsequentere Dezentralisierung der Globalisierungs- und Glokalisierungsgeschichte. Die Diskussionsteilnehmenden verwiesen auf den relationalen Charakter von Diskonnektivität, den der Begriff aufgrund seiner dichotomen Struktur nicht ausreichend akzentuiere.

Die von Kiran Klaus Patel (Maastricht) moderierte öffentliche Podiumsdiskussion erörterte Nutzen und Nachteil des Glokalisierungskonzepts. Malte Thießen (Münster) verwies in seinem Impulsvortrag auf die Veralltäglichung glokalisierender Prozesse, die vor Ort jeweils unterschiedlich verhandelt, angeeignet und durch soziale Praktiken (re-)produziert würden. Glokalisierung müsse deshalb immer im Plural gedacht werden. Angelika Epple (Bielefeld) wandte sich gegen vereinfachte Vorstellungen von Globalisierung als Homogenisierungsprozess und betonte die Auseinanderentwicklungen und Konflikthaftigkeiten von Globalisierungsprozessen. Aus sozialgeographischer Perspektive plädierte Benno Werlen (Jena) für das Konzept der „Weltbindung“, das sich der lokalen und globalen Auswirkung individuellen Handelns bewusst sei und an die Stelle etablierter, nationaler Raumvorstellungen treten solle. Martina Steber (München) verstand Glokalisierung vor allem als „Suchscheinwerfer“, anhand dessen Standardisierungs- und Pluralisierungssprozesse des Lokalen vermessen werden können. In der anschließenden Diskussion erörterten die ReferentInnen die Bedingungen, die das Konzept „Glokalisierung“ zu erfüllen habe, um für die Zeitgeschichtsforschung fruchtbar gemacht werden zu können. Glokalisierung mache Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozesse, aber auch die ihnen innewohnende Konflikthaftigkeit nachvollziehbar und verbinde akteurszentrierte mit strukturellen Perspektiven. Wie das Lokale auf das Globale zurückwirkt, bedürfe im Sinne einer Globalen Mikrogeschichte jedoch weiterer Forschung.

Die zweite, von Dieter Schott (Darmstadt) moderierte Sektion nahm globale Räume in den Blick. Wie das Konzept der „global cities“ (Saskia Sassen) für die zeitgeschichtliche Forschung nutzbar gemacht werden könne, eruierte CHRISTIAN RAU (Berlin). Charakteristisch seien Verschiebungen von Ordnungsrahmen und -vorstellungen, wobei städtische Räume als Aushandlungsorte globaler Urbanität fungierten. Die Perspektive auf marginalisierte Gruppen, die sich ihre transformierten Umwelten auf eigensinnige Weise aneigneten, werfe in Anlehnung an die Raumdimensionen Henri Lefebvres neue Fragen nach Raumpraktiken und -präsentationen auf.

Um solche Raumpraktiken, -präsentationen und -aneignungen ging es auch SUSANNE SCHREGEL (Köln). Sie analysierte die Gestaltung von Raumbeziehungen in urbanen sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre. Entsprechend der Nahraumorientierung sozialer Bewegungen seien Städte zum Gegenstand politischen Handelns erklärt, international gedachte Politikfelder im Sinne einer politics of scale lokal umgedeutet worden. Die Referentin plädierte für den Begriff der Multiskalarität, der die Variabilität räumlicher Skalierungen betone. Diese könnten nicht ohne die Reflexion von Machtverhältnissen und ihrer Transformationen analysiert werden.

ARNDT NEUMANN (Hagen) stellte in seinem Kommentar drei Faktoren heraus, die der Stadtgeschichte seit den 1970er-Jahren neue Richtung gaben: die Neuverhandlung der Bedeutung des Nationalstaats, die gegenläufigen Wirkungen des Globalisierungsschubs und den Bedeutungsverlust Europas im globalen Maßstab.

CHRISTOPH KALTER (Berlin) lenkte den Blick auf die Stadt als Schnittpunkt transregionaler Prozesse. Am Beispiel Lissabons untersuchte er die Folgen von Imperialismus, Migration und Tourismus auf die Stadtentwicklung und -geschichte. Diese Prozesse waren Teil der propagandistischen Inszenierung Lissabons als imperiales Zentrum und verschränken sich bis heute in der städtischen Erinnerungskultur. Diese mache die vermeintliche Authentizität multiethnischer Stadtviertel und das koloniale Erbe konsumierbar. Die Gewalt des Kolonialismus werde ausgeblendet, was jedoch zunehmend öffentlich kritisiert werde.

Der Vortrag von Christoph Strupp (Hamburg) zu Hafenstädten musste krankheitsbedingt entfallen, sodass Lasse Heerten (Bochum) seinen Kommentar nutzte, um die globalhistorische Forschung zu Hafenstädten vor dem Hintergrund des Themas des Workshops zu reflektieren. Unter Bezugnahme auf das Konzept der „transspacialization“ (Cyrus Schayegh) hob er auf die Scharnierfunktion von Hafenstädten ab, nicht allein in räumlicher, sondern auch in diachroner Hinsicht, bestimmt doch das kolonialzeitliche globale Netzwerk von Hafenstädten die räumliche Struktur global-lokaler Interaktion bis in die Gegenwart.

Die dritte und letzte, von Martin Knoll (Salzburg) moderierte Sektion „Regionalität und globale Verflechtung“ führte die bisherigen Perspektiven zusammen und untersuchte die Interdependenz von Globalität und Regionalität in weiteren, nicht-städtischen räumlichen Zusammenhängen. ANDREA REHLING (Augsburg) analysierte den handlungsleitenden Einfluss von Raumvorstellungen am Beispiel des UNESCO-Welterbeprogramms, das Welterbestätten anhand kulturell und biologisch-geographisch determinierter Weltregionen kategorisiert habe. Folgen seien die Aufwertungen kultureller Identität und Souveränität sowie Indigenität gewesen, was wiederum auf die Regionen zurückgewirkt habe. Hier ermögliche ein kosmopolitischer Ansatz multiperspektivische Analysen von Institutionalisierungsprozessen, aber auch von Neuformierungen von Praktiken, Skalen und Entitäten.

THOMAS KÜSTER und MATTHIAS FRESE (beide Münster) beschäftigten sich mit methodischen Fragen nach der Bedeutung globaler Perspektiven für die regionale Zeitgeschichte. „Region“ verstanden sie als Projektionsfläche und Folie, aber auch als Transmissionsinstanz, Vermittler und Verstärker von Globalisierungsprozessen. Gängige nationale Erklärungsrahmen müssten relativiert, Überlagerungseffekte des Globalen, Nationalen, Regionalen und Lokalen stärker berücksichtigt werden.

ANDREAS WIRSCHING (München) stellte die Deindustrialisierungsprozesse, mit denen viele westeuropäische Wirtschaftsräume seit den 1970er-Jahren konfrontiert waren, in einen globalen Kontext. Der regionale Niedergang industrieller Sektoren könne dabei nicht ohne weiteres mit einem globalen Niedergang von Industrien gleichgesetzt werden. Eine Geschichte des Glokalen müsse deshalb die unterschiedlichen Entwicklungen gleicher Industrien in verschiedenen Märkten und Wirtschaftsräumen sowie deren spezifische lokale Folgen, einschließlich individueller Abstiegserfahrungen, berücksichtigen.

Die von Küster und Frese angeführten Überlagerungseffekte schlüsselte MARTINA STEBER (München) anhand von „Boomregionen“ auf. Zu ihnen zählen die hybriden Raumtypen wie die „StadtLandschaft“ und der „prosperierende ländliche Raum“. Deren Untersuchung ergänze die dominierenden Verlusterzählungen der „Nach-dem-Boom“-Forschung. Anhand der Regionen Böblingen, Sindelfingen und Traunstein analysierte die Referentin die Verschränkung lokaler und globaler Referenzräume. Der Blick auf kleine Räume verweise auf die strukturbildende, verfestigende Kraft des Zusammenspiels von Regionalität und Globalität, das eine Vielzahl neuer Räume schuf. In seinem Kommentar machte Martin Knoll umwelt- und tourismushistorische Perspektiven für eine Geschichte der Glokalisierung fruchtbar.

Die Abschlussdiskussion resümierte, dass die Vielfältigkeit von Räumen, aber auch die Rolle von raumbildenden Akteuren bei der Analyse von Glokalisierungsprozessen stärker mit einbezogen werden müsse. Glokalisierung, so Kirsten Heinsohn (Hamburg), könne dabei als Sonde dienen, bedürfe jedoch der methodischen Vertiefung, um als operationable Analysekategorie zu fungieren. Es zeige sich, dass in den jeweiligen im Workshop vertretenen Forschungsfeldern wie der Global-, Mikro- und Regionalgeschichte, der Urban und Spatial History zentrale Begriffe, etwa „Globalisierung(en)“, unterschiedlich verwendet würden. Gerade deshalb seien multiperspektivische Zugänge, wie sie der Workshop ermöglichte, so wichtig und fruchtbar für die „Vermessung eines neuen Forschungsfeldes“.

Konferenzübersicht:

Sektion 1 – Globalisierungen. Das 19. und 20. Jahrhundert im Dialog
Moderation: Anette Schlimm (München)

Geert Castryck (Leipzig): Europa – Afrika hin und zurück. Imperialismus, Kolonialismus und globale Neuverräumlichungen seit dem 19. Jahrhundert

Bernhard Gißibl (Mainz): Rewilding Europe. Zur Rekonfiguration europäischer Natur im Anthropozän

Kommentar: Martin Rempe (Konstanz)

Roland Wenzlhuemer (München): Diskonnektivität in Globalisierungsprozessen

Bernhard C. Schär (Zürich): (Dis-)Connected. Die Familie Wyrsch zwischen Nidwalden und Borneo, ca. 1825–1875

Kommentar: Stephan Scheuzger (Bern)

Podiumsdiskussion: Glokalisierung. Vom Nutzen und Nachteil eines Forschungskonzepts
Moderation: Kiran Klaus Patel (Maastricht)

Podium: Malte Thießen (Münster) – Angelika Epple (Bielefeld) – Benno Werlen (Jena) – Martina Steber (München)

Sektion 2 – Urbane Räume. Stadt und Globalität
Moderation: Dieter Schott (Darmstadt)

Christian Rau (Berlin): Global City. Historische Perspektiven auf ein sozialwissenschaftliches Konzept

Susanne Schregel (Köln): Thesen zu Raum und Skalierung in sozialen Bewegungen

Kommentar: Arndt Neumann (Hagen)

Christoph Strupp (Hamburg): Hafenstädte. Tore zur Welt zwischen Mythos und Realität (entfallen)

Christoph Kalter (Berlin): Lissabon in der Welt. (Post-)Imperialismus, Migration und Tourismus

Kommentar: Lasse Heerten (Bochum)

Sektion 3 – Regionalität und globale Verflechtung
Moderation: Martin Knoll (Salzburg)

Andrea Rehling (Augsburg): Das Spiel der Ebenen im UNESCO-Welterbeprogramm

Thomas Küster und Matthias Frese (Münster): Die Region als Handlungs- und Erfahrungsebene. Globale Perspektiven in der Methodik der regionalen Zeitgeschichte

Kommentar: Thomas Schlemmer (München)

Andreas Wirsching (München): Deindustrialisierung und Globalisierung – Nullsummenspiel oder Abstieg?

Martina Steber (München): Boomregionen. Überlegungen zu räumlichen Dynamiken seit den 1970er Jahren

Kommentar: Bernhard Löffler (Regensburg)

Schlussdiskussion
Moderation: Kirsten Heinsohn (Hamburg)


Editors Information
Published on
16.03.2020