C. Weiss: Wie Sibirien "unser" wurde

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Title
Wie Sibirien "unser" wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert


Author(s)
Weiss, Claudia
Published
Göttingen 2007: V&R unipress
Extent
261 S.
Price
€ 44,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Dittmar Schorkowitz, Historisches Institut, Universität Greifswald

Der Titel des Buches klingt vielversprechend. Doch wer auf die grotesk anmutende Fragestellung des rückseitigen Einbandes, „Wie kommt es, daß Sibirien geographisch wie mental zu einem festen, untrennbaren Bestandteil Rußlands geworden ist, während andere imperiale Großmächte ihre Kolonien verloren haben?“, eine Antwort erwartet, der muß sich getäuscht sehen.

Anliegen sei es, der „mentalen Ebene“ (S. 23) der engen Bindung zwischen Rußland und Sibirien nachzuspüren - heißt es. Sibirien sei bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von den Eliten des Reiches - welche, bleibt unklar - wirtschaftlich nur ausgebeutet worden und erst im 19. Jahrhundert habe diese begonnen, „Sibirien als naša (unser) zu betrachten. Das Rußländische Imperium nutzte Sibirien nun nicht mehr nur wirtschaftlich und militärisch, sondern vereinnahmte es auch mental.“ (S. 24).

Wie aber der Beweis zur „mentalen Einverleibung Sibiriens“ (S. 24) geführt werden soll, verrät Claudia Weiss nicht, es sei denn, man folgte ihrer Hypothese, daß diese allein durch die literarische Verwendung des Possessivpronomens Unser (naš) hinlänglich bezeugt werde. Der Nachweis zur Behauptung, der „Begriff naš [sei] tief verwurzelt (...) in der russischen Mentalität“ (S. 24), wird indes nicht geführt. Die Reduktion auf die russisch-orthodoxe Begrifflichkeit sobornost’ - ein slavophiler Neologismus - ist nicht überzeugend. Überhaupt sagt die Verwendung dieser sprachlichen Kategorie zunächst einmal nur etwas über die Positionierung des Sprechers und Betrachters aus, sekundär auch etwas über seine Intentionen (Inklusion bzw. Exklusion), nichts aber über die sozialen oder politischen Prozesse begrifflicher Aneignung. Glücklicherweise werden diese Gedankenspiele später nicht mehr aufgegriffen. Ihr Fehlen in der Einleitung hätte also niemand vermißt.

Das nachfolgende Kapitel skizziert den Gründungsverlauf der Russischen Geographischen Gesellschaft (RGG) von 1845, wobei der wenig überzeugende Versuch unternommen wird, ihr westeuropäische Formierungseigenschaften (Sociabilité, civil society) zuzuschreiben. Es endet mit einer seitenlangen Zusammenfassung aus dem vierten Band von Alexander von Middendorfs 1867/75 in deutscher Sprache publizierten Reisebericht. Über die Anzahl der Mitglieder scheint Frau Weiss noch geteilter Meinung zu sein, gibt sie doch für 1850 zuerst 419 Mitglieder (S. 46), dann aber 510 (S. 69) an. Es folgt ein biographisch gehaltener Abschnitt über Graf Michail Nikolaevič Muravëv (1796-1866) und Graf Nikolaj Nikolaevič Muravëv-Amurskij (1809-81), der die Bedeutung des annektierten Amurgebietes hervorhebt und wiederum in einer ermüdenden Kompilation von Ausschnitten diverser Reiseberichte über diese Region endet, die quellenkritischen Sachverstand vermissen läßt. Dem schließt sich übergangslos und ohne schlüssigen Rückbezug im vierten Kapitel eine Beschreibung der Petraševcy von St. Petersburg und der personellen Beziehungen dieses Oppositionskreises zur RGG an, gefolgt von einer Übersicht zu den politischen Verbannten in Sibirien, von denen nicht wenige in den Dienst der RGG eintraten. Doch werden die Verheißungen des Titels (‚Wider das Imperium’) nicht erfüllt. Dabei wäre die Abhandlung zur Stellung der oppositionellen Intelligenzija in der RGG in ihrer Bedeutung für Sibirien sicherlich ausbaufähig gewesen. Wie auch die Geschichte der antikolonialen Tradition Sibiriens leider zu kurz kommt, da sie auf den sibirischen Regionalismus der Oblastniki N.M. Jadrincev und G.N. Potanin reduziert bleibt, ohne Rückblick auf die Dekabristen auskommt und die indigenen Widerstandsformen mit keiner Silbe erwähnt. Das Kapitel endet erneut mit langen Exzerpten, diesmal aus Jadrincevs bekannter Sibirienschrift und aus Kropotkins orographischen Studien. Enttäuschend sind auch die beiden letzten Kapitel, bieten sie doch nicht mehr als eine nur oberflächlich bleibende Skizze zur Erschließung Sibiriens im späten 19. Jahrhundert. Der Anteil der RGG hieran sowie ihre internationale Wissenschaftsvernetzung werden nur summarisch und in der Aufzählung einer Vielzahl von Belanglosigkeiten erkennbar.

Herausgekommen ist damit ein Torso, der viele Themen anspricht und zu verbinden sucht, aber kaum eines erschöpfend behandelt. Claudia Weiss wäre besser beraten gewesen, ihren zentralen Gegenstand - die Russische Geographische Gesellschaft - in den unterschiedlichen Aspekten handwerklich sauber und eingehend zu untersuchen: institutions- und wissenschaftsgeschichtlich sowie wissenschaftssoziologisch. Dazu hätte insbesondere eine Analyse der Expeditionsgeschichte gehört, schon allein aufgrund der internationalen Vernetzung und Konkurrenz. Besonderes Gewicht hätte hierbei auf das Zusammenspiel von Außenpolitik und Wissenschaftsorganisation gelegt werden können, um den Anteil der RGG an den imperialen Unternehmungen des Zarenreiches genauer und vergleichend zu bestimmen. Dabei wäre vielleicht ans Tageslicht gekommen, daß Imperien ihre Entstehung - anders, als von Claudia Weiss vertreten - weit weniger den „historischen Gelegenheiten“ und viel eher doch „absichtsvoller Planung“ (S. 19) verdanken.

So aber hält der Leser weder eine umfassende Untersuchung zur rußländischen Perzeption Sibiriens, noch eine Abhandlung zur Geschichte von Geographie oder Kartographie in Rußland bzw. der sie repräsentierenden Geographischen Gesellschaft in der Hand. Der rote Faden fehlt. Nach einer Ausführung der eingangs entwickelten Hypothesen und Fragestellungen sucht man vergebens. Statt dessen werden ungeprüfte Behauptungen und waghalsige Beurteilungen in den Raum gestellt, etwa in der Art: „Verglichen mit anderen Sprachen ist die Intensität, mit der Russen naš benutzen, um einen mentalen Besitz anzuzeigen oder aber einen mentalen Anspruch zu erheben, deutlich stärker.“ (S. 25). Nicht nur unterläßt es die Autorin, Belege zur Ausbeutung Sibiriens im 17. und 18. Jahrhundert beizubringen, die es Rußland erlaubt haben soll, „seine Kriege gegen seine Nachbarn zu finanzieren“ (S. 23). Ihrer Aufmerksamkeit scheint außerdem entgangen zu sein, daß Sibirien, das sie mit Dominic Lieven für das Juwel der imperialen Krone unter Rußlands Kolonialerwerbungen (S. 20) hält, doch von adligem Landbesitz nahezu frei war, daß seine Berg- bzw. Hüttenwerke sowie die pelztierreichen Staatsforsten dem Zaren als Kron- oder Kabinettsländereien direkt und später dem Reichsdomänenministerium unterstanden und daß im Wappen Sibiriens aus dem Gnadenbrief von 1690 tatsächlich ein Diadem dargestellt ist, das die Kučum Chan ‚entwendete’ Krone des Sibirischen Zartums versinnbildlicht.

Weitere Mißgriffe und Fehler seien an dieser Stelle richtig gestellt. So verdrängte Zar Peter die Schweden in ihrer Vormachtstellung nicht durch „seine neu geschaffene Flotte“ (S. 16), sondern durch den Landsieg 1709 über das Hauptheer Karl XII. bei Poltava und durch die Inbesitznahme der schwedischen Ostseeprovinzen. Und bekanntlich leitete der Frieden von Nystad 1721 nicht nur den Eintritt Rußlands in das System der Großen Mächte ein, sondern er legte den Grundstein sowohl für die Polnische als auch für die Orientalische Frage. Das Russische Reich wurde zum Imperium also durch seine im 18. Jahrhundert in Ostmitteleuropa errungene Vormachtstellung, nicht durch die früher begonnene Aneignung Sibiriens, das bis ins 20. Jahrhundert - von wenigen Regionen vor allem Westsibiriens abgesehen - volkswirtschaftlich ein Zuschußgeschäft blieb. Auch nahm die Eroberung Sibiriens unter Ataman Ermak Timofeevič nicht erst „1581 ihren Anfang“ (S. 22), sondern schon im Juni 1579, noch während seiner Dienststellung im Hause der ambitionierten Kaufmannsfamilie Stroganov.

Profitabel waren zu Ende des 19. Jahrhunderts der Getreideexport aus den zentralrussischen Gouvernements und den Häfen des nördlichen Schwarzmeergebietes sowie das an Rohstoffen reiche Kaukasien - Regionen, die bei der Analyse kolonialer Erwerbungen Rußlands von Katharina der Großen bis Nikolaus I. als Vergleichsgrößen hätten herangezogen werden müssen. Denn die imperiale Auseinandersetzung mit den europäischen Großmächten fand doch gerade an der Peripherie hegemonialer Kolonialansprüche statt, angefangen mit dem Krimkrieg und dem Kampf um das Bakuer Öl, aber auch in Nordchina und der Mongolei sowie in Ostturkestan und am südlichen Rand Zentralasiens. Eine vergleichbare Konkurrenz um Sibirien, dessen erst junge Erschließung mit den Namen Transsib und BAM, Magnitogorsk und Akademgorodok verbunden ist, hat es nicht gegeben, nur eine Abgrenzung gegenüber dem Chinesischen Reich, wie die Verträge von Nerčinsk (1689), Kjachta (1727), Aigun (1858) und Peking (1860) zeigen. Deshalb hat die These, daß die „Eroberung und Integration Sibiriens in das Rußländische Imperium (...) sein Schlüssel zur imperialen Macht“ (S. 22) war, keinen Bestand. Im übrigen ist diese Schlüsselfunktion durch das Heartland-Konzept von Sir Halford John Mackinder bekanntlich schon Mittelasien zugesprochen worden.

S.S. Uvarov war nicht „amtierender Minister für Staatseigentum“ (S. 46), sondern Graf Sergej Semënovič Uvarov war Bildungsminister (1833-49) bzw. Akademiepräsident (1818-55) und als solcher quasi automatisch auch Mitglied der RGG. Ein Ministerium für Staatseigentum gab es nicht, wohl aber ein Reichsdomänenministerium, dessen Minister in der fraglichen Zeit Graf Pavel Dmitrievič Kiselëv (1837-56) war. Ihm folgte, nach nur achtmonatigem Intermezzo durch Vasilij Šeremetev, 1857 Michail Nikolaevič Muravëv nach und zwar im April, nicht im Januar (S. 84). Gleichsam war auch Aleksandr Vasil’evič Golovnin 1865 nicht „Minister für Staatseigentum“ (S. 153), sondern 1859 zum Staatssekretär ernannt, diente er 1861-66 als Bildungsminister; Reichsdomänenminister im fraglichen Jahr aber war Aleksandr Alekseevič Zelenoj (1862-72). Baron Jomini - im Personenregister abwesend - war zu keiner Zeit Außenminister (S. 204), sondern Baron Alexandre (Genrichovič) Jomini war Ministerialrat (1856-88) unter Außenminister Fürst Aleksandr Michajlovič Gorčakov (1856-82). Kirgisen haben in Westsibirien nicht gesiedelt (S. 158), sondern natürlich Kasachen.

Wichtige Literatur, darunter einschlägig bekannte Reise- und Expeditionsberichte, wurde nicht konsultiert (E. Amburger, J.G. Georgi, V.F. Gnučeva, C.D. Harris, K. Heller, Istorija Sibiri I-V, S.V. Kalesnik, V.N. Majnov, D.G. Messerschmidt, N.I. Nikitin, P.S. Pallas, R.G. Skrynnikov, D.K. Zelenin u.a.m.) und nützliche Arbeiten genannter Autoren nicht herangezogen (Hundley, H.S.: Speransky and the Buriats. Administrative Reform in Nineteenth Century Russia (1984); T.P. Matveeva: Archiv Russkogo Geografičeskogo Obščestva (1995); L. Thomas: Geschichte Sibiriens: Von den Anfängen bis zur Gegenwart (1982)). Das Polnoe Sobranie Zakonov oder der Svod Zakonov Rossijskoj Imperii, zwei unverzichtbare Quellen zur Geschichte des Russischen Reiches und seiner staatlichen Institutionen, wurden nicht herangezogen. Die Kartenwerke Remezovs und Renats scheinen das Interesse der Verfasserin nicht gefunden zu haben. Eine Beschreibung des Archivs der RGG oder ein Rezeptionsprofil ihrer vielzähligen und weitverzweigten Publikationsorgane fehlen. Das Quellenverzeichnis indiziert anhand der Fondbezeichnungen zwar die Einsichtnahme rußländischer Archivmaterialien (S. 237f.). Welche Aktenbündel und Findbücher dabei tatsächlich ausgewertet wurden, aber läßt sich durch den Blick in die Fußnoten nur erahnen. Zudem gewinnt man nicht den Eindruck, die Autorin habe auch alle Werke gelesen, die sie in ihren Anmerkungen aufzählt.

Doch für Freunde und Sammler von Stilblüten findet sich reichlich Material, bspw. Sätze wie: „Sie [die Paradiesvögel Radost’ und Pečal’, Anm. d. Rez.] sind typische Motive russischer folkloristischer Kunst und gehören genauso zur russischen Sagenwelt wie zur griechischen Mythologie, einer Vorfahrin des Byzantinischen Reiches und Wiege der europäischen Kultur.“ (S. 15); oder: „Die Wikinger, ein Symbol für glorreiche Krieger, gelten als die Gründer der alten Rus’ und als die Vorfahren des alten russischen Adels (...).“ (S. 16); oder auch: „Die Diskussion über die Definition von Imperien (...) ist in den letzten Jahren wieder verstärkt geführt worden und hat zu diversen Differenzierungen geführt, die vor allem dem Verständnis der unterschiedlichen Ausprägungen von Imperien zu Gute kommen.“ (S. 17); oder: „Chinas innenpolitische Probleme steigerten sich weiter und die imperialen Mächte standen vor der Haustüre, um von diesem Kuchen etwas abzubekommen“ (S. 89) und abschließend „auf dem Schafott, vor bereits angelegten Gewehren“ (S. 113). Die Bezeichnung Rußländisches Imperium zählte der Rezensent auf den 20 Seiten des Einleitungstextes nicht weniger als dreißig Mal.

Die Arbeit ist ein Ergebnis des von der DFG geförderten Forschungsprojektes "Die Russische Geographische Gesellschaft und die russische Sibirienpolitik im 19. Jahrhundert am Lehrstuhl für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung Mittel- und Osteuropas der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg", wo Claudia Weiss als Privatdozentin lehrt. Ob es sich hierbei um ihre Habilitationsschrift handelt, ist nicht erkennbar. Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht hat sie in seinem Universitätsverlag untergebracht. Aus der Kritik an diesem Buch, dessen Abschnitte kaum etwas bieten, was nicht anderswo schon besser und präziser beschrieben wurde, wird deutlich, daß es kaum das Niveau einer populärwissenschaftlichen Veröffentlichung überschreitet. Der Rezensent stellt es in das Regal für ausufernde Literaturberichte und Poesiealben.

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11.01.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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