Die Erforschung der chinesischen Geschichte hat in den letzten 30 Jahren wesentliche Fortschritte gemacht, indem neue archäologische Funde, darunter auch Schriftdokumente, ans Licht gebracht wurden. Es ist sicher sinnvoll, diese in eine neue Geschichtsdarstellung zu integrieren. In diesem Sinne bieten der Freiburger Sinologe und Historiker Rainer Hoffmann und seine Frau Hu Qiuhua, die am Ostasiatischen Seminar der Universität Zürich tätig ist, im vorliegenden Buch einen Überblick über die chinesische Geschichte von ihren Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf den Zeiten mit reichen schriftlichen Zeugnissen, beginnend mit der Zhou-Dynastie (circa 1050-256 v.Chr.) bis zur letzten kaiserlichen Qing-Dynastie (1644-1911). Die Ur- und Frühgeschichte, zu der man die legendäre Xia-Dynastie und die zwar schriftlich belegte, aber immer noch im Dunkeln liegende Shang-Dynastie (circa 16. Jahrhundert bis circa 1045 v.Chr.) zählt, wird recht knapp abgehandelt. Der Verlauf der Geschichte wird, wie bei ähnlichen Büchern anderer Autoren auch, nach der Abfolge der Dynastien chronologisch dargestellt. Für jede Dynastie beschreiben die Verfasser neben den im Vordergrund stehenden politischen und gesellschaftlichen Zuständen auch die kulturelle Entwicklung, die Philosophie, Literatur und Kunst umfasst.
Historiographisch folgen die Autoren der deutschen sinologischen Tradition, die zwei gute Eigenschaften besitzt. Zum einen setzen sie sich verdienstvollerweise mit den Einsichten chinesischer Historiker auseinander und bleiben in ihren Urteilen souverän und unabhängig. Hoffmann und Hu übernehmen einerseits nicht das marxistisch-evolutionistische Geschichtsbild der volksrepublikanischen Chinesen, andererseits betrachten sie die traditionelle chinesische Interpretationen, die stark nationalistisch und moralisch geprägt sind, kritisch. So gelingt es ihnen, trotz des gnadenlosen Tadels seitens chinesischer Historiker an dem Politiker Qin Hui (1090-1155) aus der Südlichen Song-Zeit, dessen Friedensschluss mit den in Nordchina eingedrungenen Jurchen unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Umstände fair und ohne ein nachträgliches moralisches Urteil darzustellen. Dadurch tragen sie dazu bei, den in China bis heute als Nationalhelden gefeierten General Yue Fei (1103-1142), der im Gegensatz zu Qin Hui ohne Rücksicht auf jegliche politische Vernunft die Eroberer bis zum Letzten bekämpfen wollte und am Ende zum tragischen politischen Opfer wurde, zu entmythologisieren.
Der zweite positive Aspekt ihres Ansatzes liegt in den kulturvergleichenden Darstellungen und Kommentaren, in denen sie die historischen Entwicklungen in China mit denen in Europa sowie bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten aus beiden Kulturkreisen parallelisieren. So werden Qin Hui und der hinter ihm stehende Song-Kaiser Gaozong (reg. 1127-1162) mit dem französischen Kanzler Suger von St. Denis und seinem König Ludwig VI. parallel gesetzt. In ähnlicher Weise vergleichen die Autoren den Krieg zwischen Liu Bang (247-195 v.Chr.) und Xiang Yu (232-202 v.Chr.) mit demjenigen zwischen den Römern Marcus Antonius und Octavian, ferner die Städte Chang’an und Rom, den Tang-Kaiser Taizong (reg. 626-649) und König Heinrich IV. von Frankreich, die Literaten Su Shi (1036-1101) und Goethe, die Reformpolitik des Wang Anshi (1021-1086) und den Durchbruch des Konzepts rationaler Staatsführung in Europa seit dem 12. Jahrhundert. Solche Vergleiche erleichtern dem europäischen Leser das nachvollziehende Verstehen der chinesischen Geschichte und machen die Lektüre interessant. Auf der Ebene der Erklärung globaler Kulturentwicklungen kommen die Verfasser jedoch nicht über die altbekannten Vorstellungen von Karl Jaspers und Max Weber etc. hinaus.
Mit seinem klaren Aufbau und seiner verständlichen Sprache ist das Buch leicht lesbar. Viele fremdsprachliche Wörter, nicht nur aus dem Chinesischen sondern auch aus dem Lateinischen, Französischen und Englischen etc., die zwar kursiv hervorgehoben werden, aber unerklärt bleiben, setzen jedoch beim Leser einen breiten fachsinologischen und allgemeinen Bildungshorizont voraus. Chinesischen Ausdrücken im Text werden die Zeichen nicht beigefügt; zu Begriffen oder inhaltlichen Referenzen werden keine zusätzlichen Erklärungen durch Fußnoten und bibliographische Hinweise gegeben. Damit bezwecken Verlag und Autoren wahrscheinlich einen breiten Leserkreis anzusprechen. Allerdings wird einem Leser, der sich in die chinesische Geschichte einarbeiten will, dadurch die Möglichkeit genommen, über das Buch hinausführende Information zu erhalten. Auch die kurze Bibliographie ist offensichtlich nicht zur Vertiefung gedacht, denn sie umfasst nur einen Teil der Grundwerke, die außerdem nicht den neuesten Forschungsstand repräsentieren. Auch bleibt das Fehlen geographischer Kartenskizze und historischer Zeittafeln in einem über 500 Seiten umfassenden Buch unverständlich.
Redaktionell sind einige Uneinheitlichkeiten nicht geglättet worden. Hinter der Kapitelüberschrift „Die Mandschu (Qing)-Dynastie“ fehlt zum Beispiel die Zeitangabe, die bei den anderen Kapitelüberschriften vorhanden ist. Was die Lebensdaten einzelner Personen angeht, werden sie manchmal im Text genannt, manchmal muss man sie erst im zehnseitigen Personen- und Sachregister suchen. Ein anderes Problem ist, dass die chinesischen Werke und Begriffe meistens nur in einer Sprache, nämlich entweder Deutsch oder Chinesisch, wiedergegeben werden. Zu besonderer Verwirrung führt dies bei der Auflistung der vier bedeutendsten Romane aus der Ming-Zeit: „Schlehenblüten in Goldener Vase“, „Shuihuzhuan“, „Sanguo yanyi“ und „Xiyouji“ (S. 362ff.). Während die letzten drei im Register mit chinesischen Zeichen zu finden sind, fehlt beim ersten sowohl im Text als auch im Register sein originaler Titel „Jinpingmei“. Lediglich im letzten Kapitel des Buches ist man dem Leser entgegengekommen, indem dort durchweg beide Sprachen gemeinsam verwendet werden. Ein Beispiel hierfür ist „die Weiße-Lotus-Sekte“ (Bailianjiao, S. 466).
Trotz aller Kritik ist das Werk eine gelungene Überblicksdarstellung von großer Anschaulichkeit. Es eignet sich nicht nur als erste Einführung in die Geschichte des alten Chinas, sondern bietet auch chinabezogenen Geschichtswissenschaftlern viele anregende Erklärungsansätze. Ferner könnte es bei chinesischen Lesern – falls sich eine Übersetzung realisieren lässt – großen Anklang finden, denn in China gibt es ein reges Interesse für die Sichtweisen ausländischer Autoren auf die chinesische Geschichte und auch für den Kulturvergleich zwischen China und dem Abendland, der in diesem Buch an vielen Stellen thematisiert wird.