Aus historisch-vergleichender Perspektive untersucht Frankema die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensungleichheit in Lateinamerika für den Zeitraum von 1870 bis 2000. Hierbei wendet er sich insbesondere gegen Ansätze, die deterministisch argumentieren und die hohen Einkommensdisparitäten in der Region nahezu exklusiv mit dem „Erbe“ kolonialer Institutionen erklären. Gegenüber solchen Ansätzen betont Frankema: „colonial legacies may have influenced distributive developments until the very present day, but the almighty forces of modernisation changed the context in which these legacies were operating“ (S. 8).
Mit diesen “allmächtigen” Modernisierungskräften meint Frankema das Zusammenspiel von drei Faktoren, das die Einkommensungleichheit wesentlich bestimmt: Erstens, Prozesse der Globalisierung und Deglobalisierung; zweitens, „strukutreller Wandel“, wozu er Veränderungen der Produktionsstrukturen, die Zusammensetzung der Arbeitskraft sowie den Einfluss technologischer und demographischer Faktoren auf letztere zählt; und drittens die Auswirkungen politischer und ideologischer Veränderungen auf institutionelle Strukturen (und deren Transformation). Diese drei Faktoren werden durch Veränderungen in der Mobilität von Arbeit und Kapital und der Qualifikation (der Arbeitskräfte) miteinander in Beziehung gesetzt, was ihn zur Formulierung folgender Ausgangsthese führt: „(C)hanges in the structure of the asset and income distribution are most likely to occur if the mobility of labour, capital, land and skills changes rapidly. The interrelated forces of structural change, globalisation and institutional change affect factor mobility and, consequently, include distributional change. Initial conditions provide a context in which these forces operate, but they do not pre-determine the nature of this interaction” (S. 14).
Basierend auf umfangreichem statistischen Material und wirtschaftshistorischen Untersuchungen zur ökonomischen Entwicklung in Lateinamerika, gliedert sich die Überprüfung dieser Hypothese in acht Kapitel. In einem ersten Schritt wird gezeigt wie trotz lokaler Unterschiede informelle und formelle koloniale Institutionen zu einer „institutionalisation of inequality“ in der Region beigetragen haben, am deutlichsten sichtbar in einer ethnisch stratifizierten Sozialordnung. Das folgende Kapitel knüpft an diese Beobachtungen an und analysiert die ungleiche Landverteilung im kolonialen Lateinamerika aus einer vergleichenden Perspektive, welche Muster der regionalen Landbesitzstruktur mit der in anderen Weltregionen vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, dass im Gegensatz zu anderen kolonialen Kontexten in Lateinamerika insbesondere politische Interessen der landbesitzenden Eliten und nicht primär ökonomische Faktoren für die Persistenz extrem ungleicher (und häufig ökonomisch ineffizienter) Grundbesitzstrukturen verantwortlich waren. Da für Frankema davon auszugehen ist, dass solche politisch determinierten Grundbesitzverhältnisse negative Konsequenzen auf die Bereitschaft landbesitzender Eliten haben, in öffentliche Bildung und damit in die Qualifikation der Arbeitskräfte zu investieren, wendet sich das nachfolgende Kapitel der Entwicklung öffentlicher Bildung in Lateinamerika von 1870 bis 2000 zu. Diese Langzeitanalyse ermöglicht der Frage nachzugehen, ob der Machtverlust der Grundbesitzer während des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, infolge von Urbanisierungs- und Globalisierungsprozessen zu einer Veränderung dieses Musters geführt haben. Auch hier ist das Buch um eine globale Vergleichsperspektive bemüht und kommt zu einem ambivalenten Ergebnis. Zwar korrespondierte der politische Machtverlust der Landbesitzer in Lateinamerika in der Tat mit einem Anwachsen der öffentlichen Bildungsprogramme und SchülerInnenzahlen, aber „more than in any other part of the world, the expansion of public primary education took place at the expense of the quality of education“ (S. 114). Dies führte zu einer Verfestigung von Bildungsungleichheitsmustern in der Region, die, trotz positiver Entwicklungen ab den 1990er Jahren, auch noch in den gegenwärtigen Bildungsbiografien der Arbeitskräfte in der Region aufzuzeigen sind.
Das fünfte Kapitel wendet sich der Frage der Einkommensungleichheit in Lateinamerika zu und versucht zu belegen, dass es weniger die ökonomische Wachstumsrate als vielmehr die Art der ökonomischen Entwicklung, d.h. deren politisch-institutionelle Einbettung, „the secular trend of income inequality“ in der Region bestimmt (S. 119). Vor dem Hintergrund einer ausführlichen Diskussion der Sekundärliteratur zum Thema hebt Frankema hier hervor, dass insbesondere die beiden ökonomische Transitions- und (De-)Globalisierungsmomente zwischen den beiden Weltkriegen und die 1970er- und 1980er Jahre belegen, wie grundlegender institutioneller Wandel (und nicht Wachstum per se) in Lateinamerika als Reaktion auf strukturelle Veränderung in der globalen Wirtschaft zu grundlegenden Veränderungen in der regionalen Einkommensungleichheit (absteigend im ersten Fall, und ansteigend im letzteren) geführt haben. Kapitel 6 knüpft an diese Beobachtungen an. Durch einen Vergleich der „functional income distribution“ in Argentinien, Brasilien und Mexiko seit 1870 verfeinert und bestätigt es im vorangegangenen Kapital für die Region als Ganze präsentierten Beobachtungen: „The trend in labour income shares thus suggests that income inequality has reached a low around the 1940’s to 1970’s, ceteris paribus“ (S. 149).
Das letzte Kapitel des Buches untersucht die Auswirkungen der dualen (formellen und informellen) urbanen Wirtschaftsstruktur Lateinamerikas auf die Einkommensverteilung während des 20. Jahrhunderts. Während trotz starker Urbanisierungsprozesse im 20. Jahrhundert die Einkommensungleichheit im urbanen Sektor der regionalen Wirtschaften relativ bescheiden war, kam es im Zuge der neoliberalen Reformen der 1970er und 1980er zu einer bis in die Gegenwart andauernden Zunahme der Einkommenspolarisierung (sowie einem damit zusammenhängendem Anwachsen des informellen Sektors). Dieses Ergebnis, so Frankema, ist jedoch nicht exklusiv auf neoliberale Globalisierungsprozesse zurückzuführen. Vielmehr interagierten letztere mit den sich während des 20. Jahrhunderts immer exkludierender werdenden Institutionen der Periode der importsubstituierenden Entwicklung: „What had started out as a policy reform to secure the welfare perspectives of larger shares of Latin American citizens, gradually evolved into an institutional system enlarging the group of outsiders“ (S. 204)—und diese Außenseiter waren es, die besonders hart von den neoliberalen Politiken betroffen waren.
In der Konklusion werden die zentralen Argumente der einzelnen Kapitel noch einmal zusammengefasst, bevor sich der Autor der Beantwortung der im Titel des Buches gestellten Frage zuwendet, ob Lateinamerika immer eine bezüglich der Einkommensverteilung ungleiche Region war und ob dies mit dem kolonialen Erbe der Region in Beziehung steht. Die Antwort ist ein ambivalentes „ja und nein”: „Yes, current Latin American inequality still bares traces of the colonial legacy. […] But no, Latin America has not always been as unequal as it is today. Not only were levels of interpersonal income inequality lower during the mid-20th century […], the opportunities for inter-generational mobility were also more evenly distributed” (S. 206f.).
Das Buch leistet einen interessanten und relevanten Beitrag zu den aktuellen Diskussionen bezüglich des kolonialen Erbes der wirtschaftlichen Entwicklung in Lateinamerika. Auch wenn es wohl primär an ein wirtschaftswissenschaftliches Publikum gerichtet ist, ist das Buch gut lesbar und dürfte auch für an Lateinamerikas wirtschaftlicher Entwicklung interessierte soziologische, politikwissenschaftliche und historische Wissenschaftsgemeinden von Interesse sein. Es bleibt allerdings zu bezweifeln, ob die Frage nach dem Grad des kolonialen Erbes und dessen Determinierungskraft postkolonialer ökonomischer Entwicklungen mit Frankemas Beitrag definitiv beantwortet wird. Nicht nur ist seine eigne Konklusion hier weniger eindeutig als die anfangs aufgemachte Abgrenzung gegenüber andere Ansätzen zuerst nahe legen würde. Weiterhin haben andere neuere Publikationen, zu denken wäre hier in erster Linie an Mahoney´s „Colonialism and Postcolonial Development“1, auf die strukturelle Persistenz ökonomischer Entwicklungspfade in Lateinamerika seit der späten Kolonialzeit hingewiesen, an deren grundlegenden Parametern sich aus einer historischen Langzeitbetrachtung ungeachtet von internen und globalen Wandlungsprozesse wenig geändert hat. In diesem Sinne bleibt die Diskussion bezüglich der Tiefe des „kolonialen Erbes“ der lateinamerikanischen ökonomischen Entwicklung weiterhin kontrovers und spannend. Das Frankema's Buch einen relevanten Beitrag zu dieser Debatte leistet, dürftige unstrittig sein.
Anmerkung:
1 James Mahoney, Colonialism and Postcolonial Development. Spanish America in Comparative Perspective. Cambridge 2010.