J. Dávila: Hotel Trópico

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Title
Hotel Trópico. Brazil and the Challenge of African Decolonization, 1950-1980


Author(s)
Dávila, Jerry
Published
Extent
328 S.
Price
€ 20,89
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Georg Fischer, Freie Universität Berlin / Yale University

Mit seinem Buch betritt Jerry Dávila faszinierendes historiographisches Neuland. In einem empirisch gesättigten Erzählstil beleuchtet Dávila unterschiedliche Dimensionen der Beziehungen zwischen Brasilien und afrikanischen Staaten zwischen 1950 und 1980. Dabei geht es nicht nur um die diplomatische Haltung Brasiliens zu den entstehenden postkolonialen Staaten, sondern immer auch um den Blick auf die eigene Gesellschaft, die Rekonstruktion kultureller und ethnischer Identitäten im Spannungsfeld tradierter Abhängigkeitsbeziehungen. Im Mittelpunkt stehen politische und gesellschaftliche Akteur/innen, deren Handlungen Dávila aus einer großen Bandbreite an Primärquellen – darunter Zeitungen aus zehn Ländern sowie Archive der Außenministerien und Geheimdienste Brasiliens und Portugals – und Interviews rekonstruiert.

Im ersten Kapitel steht der lusotropicalismo als ideologischer Überbau brasilianischer Außenpolitik im Mittelpunkt. Diese durch den brasilianischen Soziologen Gilberto Freyre formulierte Denkfigur interpretierte die portugiesische Übersee-Expansion aufgrund einer der portugiesischen Kultur eigenen Neigung zur Vermischung als Prozess kultureller und ethnischer Verschmelzung. Ausgehend von der Beobachtung, dass in Brasilien das daraus abgeleitete Gesellschaftsmodell der democracia racial ihre Verwirklichung gefunden habe, wurde Freyre zu einem einflussreichen Apologeten des modernen portugiesischen Kolonialismus. Der lusotropicalismo hatte, in Kombination mit den tradierten proportugiesischen Orientierungen der politischen Eliten und nicht zuletzt dem handfesten Einfluss der portugiesischen Gemeinde Rio de Janeiros, enorme Wirkung auf die brasilianische Außenpolitik. Die portugiesische Kolonialherrschaft in Afrika wurde als Zivilisationsleistung interpretiert, welche die Entwicklung von Gesellschaften begünstige, in denen die Kategorie race irrelevant sei. Unter Präsident Jânio Quadros (Januar bis August 1961) versuchte das brasilianische Außenministerium Itamaraty schließlich, der Diplomatie unter dem Eindruck der Unabhängigkeit zahlreicher afrikanischer Staaten eine neue Stoßrichtung zu geben und etablierte unter der Doktrin der „Unabhängigen Außenpolitik“ sechs diplomatische Vertretungen in Afrika. Für Quadros war die Verwirklichung der democracia racial nach brasilianischem Vorbild untrennbar mit der Dekolonisierung Afrikas verbunden, seine Freyre-Exegese fand somit unter umgekehrten Vorzeichen statt.

In Kapitel 2 untersucht Dávila die Akteursgruppen und Ideen, welche die neue Afrikapolitik im Zeichen der Unabhängigen Außenpolitik unter Quadros prägten. Besondere Erwähnung verdient der Abschnitt über Raymundo Souza Dantas, der 1961 als erster Afrobrasilianer in der Geschichte des Itamaraty als Botschafter nach Ghana entsandt wurde. Dantas‘ Präsenz in Accra sollte sowohl die historischen Bindungen zwischen Afrika und Brasilien als auch die Realität der brasilianischen democracia racial symbolisieren. Der ghanaische Präsident Kwame Nkrumah interpretierte die Entsendung Dantas‘ als eine rassistische Symbolpolitik des Itamaraty, das den ersten Schwarzen Botschafter lieber „nach Schweden“ (S. 46) hätte entsenden sollen. Dantas war indes der „doppelten Entfremdung“ ausgesetzt, einerseits von anderen Mitarbeitern des brasilianischen diplomatischen Dienstes rassistisch diskriminiert zu werden, während er sich andererseits gegenüber den Ghanaern als „black man of a different civilization“ (S. 48) empfand und keinerlei Afrikaromantik entwickelte .

Die Kapitel 3-5 untersuchen die brasilianisch-afrikanischen Beziehungen der 1960er Jahren anhand der Fallbeispiele Nigeria, Senegal und Angola. Die meisten Brasilianer/innen, die Dávila hier zu Wort kommen lässt, nahmen Nigeria als einen Kristallisationspunkt gemeinsamer Geschichte wahr. Die Betonung dieser Gemeinsamkeit diente laut Dávila zur Konstruktion ihrer eigenen Africanness. Die Konstruktion von sameness sei ein Grundzug brasilianischer Nationalidentität und ferner „an insight into the values born of the idea that Brazil was a racial democracy“ (S. 67). Die Art, wie Brasilianer/innen in Afrika ihre eigene afrikanische Herkunft und die brasilianische democracia racial zelebrierten, brachte jedoch auch Gegenstimmen hervor. Dávila zeigt dies anhand der Westafrika-Reise des afrobrasilianischen Filmemachers Antônio Pitanga 1964, auf der er den Film „Ganga Zumba“ über den Sklavenaufstand von Palmares einem illustren und begeisterten Publikum präsentierte.

Während sich Brasilien nach dem Militärputsch von 1964 wieder an Portugal annäherte, nahmen die Unabhängigkeitskriege in den portugiesischen Kolonien an Intensität zu. Die proportugiesische Haltung Brasiliens in der Vollversammlung der Vereinten Nationen verärgerte die ansonsten so hofierten afrikanischen Regierungen zunehmend. In dieser Phase bemühte sich der senegalesische Präsident Léopold Senghor um eine vermittelnde Position: In einem hochspannenden Abschnitt beschreibt Dávila die von Senghor initiierte Kampagne zur Freilassung afrikanischer Unabhängigkeitsaktivisten, die der portugiesische Geheimdienst in Brasilien verhaftet hatte. Senghors Vision einer „Afro-Luso-Brasilianischen Gemeinschaft“ unter der Führung Brasiliens konnte jedoch Brasiliens passive Unterstützung der portugiesischen Kolonialherrschaft in Afrika noch nicht überwinden.

Kapitel 6 beschreibt den Wandel der brasilianischen Diplomatie gegenüber Portugal und Afrika zwischen 1972 und 1974. Dávila erzählt diese über ihren zentralen Akteur, Außenminister Mário Gibson Barboza, der Ende 1972 während einer vierwöchigen Reise durch Westafrika die diplomatische Loslösung von Portugal vorbereitete. Der von Militärmachthaber Ernesto Geisel schließlich abgesegnete Politikwechsel konnte keine Wirkungskraft mehr entfalten, da die Nelkenrevolution in Portugal im April 1974 die Verhältnisse in den portugiesisch-brasilianischen Beziehungen auf den Kopf stellte. Kapitel 7 untersucht die Nelkenrevolution als luso-afrikanisch-brasilianische Verflechtungsgeschichte und stellt in sich ein faszinierendes Thema dar.

Kapitel 8 behandelt den Versuch Brasiliens freundschaftliche Beziehungen zur angolanischen MPLA-Regierung aufzunehmen. Die brasilianische Regierung sah dies aufgrund ihrer zu langen Loyalität zu Portugal als den Schlüssel zum afrikanischen Kontinent an. Diese Konstellation führte schließlich zu einer paradoxen Situation, in der die antikommunistische Militärregierung Brasiliens das sozialistische Angola stützte, das sich zeitgleich nur durch die militärische Intervention Kubas gegen die von Südafrika und den USA unterstützten Interventionstruppen behaupten konnte. Dies wurde in der Folge zwar als diplomatischer Fehler gewertet; für Brasilien bedeutete es jedoch einen positiven Neuanfang in seinen Beziehungen zu den afrikanischen Staaten.

Kapitel 9 widmet sich einem anderen Aspekt brasilianischen Engagements im Afrika der 1970er-Jahre: dem Versuch, Nigeria als einen Absatzmarkt für brasilianische Konsumgüter – insbesondere Fleisch, Haushaltsgeräte und Autos – zu gewinnen. Hier zeigt Dávila überzeugend die Gemengelage zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur auf. Die brasilianische Regierung setzte darauf, das Land als zukünftige, nicht-hegemoniale Weltmacht und als natürlichen Partner in der Modernisierung Afrikas zu stilisieren, da man in der Lage war „tropische Technologie“ bereitzustellen. Diese Annäherung stellte sich als problematisch heraus, da die logistischen Kapazitäten unzureichend waren, viele Produkte von den nigerianischen Konsumenten negativ aufgenommen wurden und auch aufwändige Werbekampagnen die immer wieder aufkeimende Kritik am brasilianischen Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell nicht zum Verstummen brachten.

Kritisch ist zu konstatieren, dass Dávila in seinem Hang zur Quellennähe die beschriebenen Ereignisse nur minimal kontextualisiert. Ein Beispiel dafür ist die fehlende Erwähnung der Kritik an der democracia racial-Ideologie, die seit Mitte der 1950er-Jahre im Rahmen eines UNESCO-Forschungsprojekts international Gehör fand.1 Die afrikanischen Gesellschaften werden strikt durch die Brille brasilianischer Akteure geschildert, die in orientalistischer Weise ein Afrika imaginieren, das letztlich nur als Projektionsfläche zur Verhandlung brasilianischer Identitäten dient. Dies macht methodisch Sinn, wenn man das Buch als Beitrag zur Postkolonialismus-Literatur im Sinne Edward Saids begreift. Diese Einordnung bleibt dem/der Leser/in jedoch selber überlassen, da sich in Hotel Trópico kein Verweis auf die theoretisch-methodischen Grundannahmen des Verfassers findet.

Insgesamt wird sich Hotel Trópico als zentrale Referenz in der Geschichte der Süd-Süd-Beziehungen erweisen. Der kreative Umgang mit den Quellen und die multiperspektivische Erzählform erschließen der historischen Forschung zur Dekolonisierung Afrikas, zur brasilianischen Diplomatie, aber auch zur brasilianischen Kultur und Gesellschaft in ihren transnationalen Verflechtungen neue Forschungsfelder. Das Buch hilft bei der historischen Einordnung des aktuellen brasilianischen Interesses an Afrika, das die hier analysierten Diskurse und Vorstellungen wiederbelebt hat. Und so wie Brasilien seit Langem als „Land der Zukunft“ gilt, vermutete auch der CEO des brasilianischen Bergbaukonzerns Vale, Roger Agnelli, im Jahr 2010 nach dem Vertragsabschluss zur Erschließung eines Kohlelagers in Mosambik: „The thing about Africa is that sooner or later it will become a reality“.2

Anmerkungen:
1 Bastide, Roger; Fernandes, Florestan, Relações raciais entre negros e brancos em São Paulo: ensaio sociológico sôbre as origens, as manifestações e os efeitos do preconceito de côr no município de São Paulo, São Paulo 1955
2 Lapper, Richard, Brazil enters Fray for African Resources, in: Financial Times online, 8.2.2010, <http://cachef.ft.com/cms/s/0/bb7fb012-14da-11df-8f1d-00144feab49a.html> (11.3.2011).

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09.09.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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