Im Vergleich zu den europäischen Kolonialismen weist der japanische Fall die Besonderheit auf, dass die (europäische) Zivilisation zu demselben Zeitpunkt in die Kolonien exportiert wurde, zu dem sie in Japan selbst erst angeeignet wurde. Diesen Sachverhalt, den Robert Eskildsen schon vor einigen Jahren mit dem Begriff „mimetic imperialism“ bezeichnet hat1, charakterisiert Nadin Heé in ihrem neu erschienenen Buch zum japanischen Kolonialismus überzeugend als double bind-Konstellation. Die japanische Politik habe vor dem Dilemma gestanden, zeitgleich eine innere Zivilisierung und einen nach außen (an die Kolonien gerichteten) Zivilisierungsauftrag zu verfolgen.
Diese besondere Konstellation untersucht Heé anhand der japanischen Kolonisierung Taiwans, die von 1895 bis 1945 dauerte. Im Mittelpunkt steht dabei die These, dass der Zivilisierungsprozess in der Kolonie entscheidend durch die Produktion wissenschaftlichen Wissens vorangebracht worden. Koloniales Wissen habe sich aber, so die Hauptthese Heés, auch auf Formen der Ausübung von Gewalt bezogen. Anders als ein Modernisierungs- oder Zivilisierungsnarrativ nahelegen würde, sei mit einer Zunahme von Wissensproduktion keineswegs eine Abnahme von Gewalt einhergegangen. Dies zeigt Heé anhand von sechs chronologisch angelegten Kapiteln, die verschiedene Formen der Gewaltausübung thematisieren, welche die japanische Kolonialherrschaft in Taiwan prägten. Sie hält sich dabei wenig mit der Beschreibung der teils ereignisgeschichtlich nicht einfach zu rekonstruierenden Fälle von Gewaltausübung auf, sondern geht der Frage nach, wie diese ermöglicht wurde. Den hier wirksamen zentralen Mechanismus beschreibt Heé wie folgt: „Dabei griffen die Akteure auf einen hegemonialen Diskurs zurück, der die Grundvoraussetzung zur Schaffung administrativer Gewalträume bildete. Die durch den wissenschaftlichen Kolonialismus mitgeprägten neuen sozialen Ordnungen in der Kolonie wurden somit zu einem nachhaltigen Ermöglichungsraum für Gewalt“ (S. 246).
Am Anfang stand der Kolonialkrieg (Kapitel 1). Dessen spezifische Form folgte, so Heé, Erfahrungen, die Japan bereits 1874 bei einer Strafexpedition gegen Taiwan gemacht hatte. Der Feind sei 1874 wie 1895 als „Bandit“ diskreditiert worden, was bestimmte Formen der Gewaltausübung erst möglich gemacht habe. Bediente sich die neue Kolonialregierung ganz zu Beginn ihrer Herrschaft noch des (auch international kritisierten) Mittels der Massaker, um ihre Herrschaft durchzusetzen, so setzte sich bald die Erkenntnis durch, dass Produktion von Wissen über die Kolonie „für eine effizientere Unterdrückung der Aufstände“ vonnöten war (S. 65).
Diese Wissensproduktion mündete in die Etablierung des hokō-Systems, eines im qing-zeitlichen China (freilich kaum auf Taiwan selbst) praktizierten Systems der kollektiven Verantwortung von Familienverbänden (Kapitel 2). Das Beispiel des hokō-Systems zeigt auch, dass, anders als bislang häufig angenommen, die Orientierung am Vorbild Deutschland weniger entscheidend für die Regierungsform des wissenschaftlichen Kolonialismus in Taiwan war. Vielmehr waren die Arbeiten der 1901 eingesetzten Kommission zur Erforschung der alten Sitten und Gebräuche ausschlaggebend. Neben dem System der kollektiven Verantwortung wurde eine weitere Klassifikation aus der Zeit der chinesischen Herrschaft über die Insel übernommen, nämlich die Unterteilung der Inselbewohner in chinesische Bevölkerung und „Barbaren“, für die teils eigene Bestimmungen galten. Anhand von drei Einzelfällen zeigt Heé, wie das hokō-System einerseits der Entstehung von (widerständiger) Gewalt vorbeugen sollte, andererseits aber auch „neue Handlungsspielräume für das Ausüben körperlicher Gewalt schuf“ (S. 107).
Nachdem körperliche Strafen im japanischen Rechtssystem bereits Anfang der 1880er-Jahre abgeschafft worden waren, wurden sie in Taiwan 1904 als Peitschenstrafe wieder eingeführt (Kapitel 3). Hintergrund war eine unter japanischen Juristen geführte wissenschaftliche Diskussion über den Zivilisationsgrad der Inselbewohner. Demnach wurden Freiheitsstrafen als für das „unzivilisierte“ chinesische Volk ineffektiv, die Peitschenstrafe hingegen als der moralischen Hebung der chinesischen Bewohner der Insel förderlich angesehen. Überdies wurde die Form der Ausübung der Peitschenstrafe, bis hin zur Beschaffenheit der Peitschen, von japanischen Strafrechtlern detailliert diskutiert.
Zwangsarbeit und Folter waren die wichtigsten Formen kolonialer Gewaltausübung in der relativ stabilen Phasen der Kolonialherrschaft während der 1920er-Jahre (Kapitel 4). Anders als im Fall der Peitschenstrafe führte Wissensproduktion in diesen Bereichen nicht zur Kodifizierung neuer Gewaltpraktiken; vielmehr „wurde durch die wissenschaftliche Untermauerung neuer Gesellschaftshierarchisierungen zusätzlicher Freiraum für Machtmissbrauch geschaffen“ (S. 178).
Hatte sich ein Großteil der gewaltsamen Herrschaftstechniken der Kolonialregierung zunächst gegen die chinesische Bevölkerung der Insel gerichtet, so rückten die als „Barbaren“ qualifizierten Inselbewohner 1930 durch den Musha-Aufstand ins Zentrum der Aufmerksamkeit (Kapitel 5). Einen Überfall auf Japaner durch Angehörige der Bergbevölkerung beantwortete die japanische Kolonialregierung mit einer Vernichtungskampagne gegen ganze Bevölkerungsgruppen. Heé interessiert sich hier für die Rolle, die das kolonial produzierte Wissen über „Kopfjagd“ bei dem Aufstand und seiner Niederschlagung spielte. Die Kopfjagd nämlich wurde sowohl von den Aufständischen als auch von den von der japanischen Regierung mobilisierten einheimischen Kriegern praktiziert. Trotz Nutzung modernster Kriegstechnik nämlich erlaubte erst der auf der Instrumentalisierung anthropologischen Wissens basierende Einsatz letzterer der Kolonialregierung, den Aufstand zu unterdrücken.
Im zunehmend totalen Krieg der frühen 1940er-Jahre setzte die japanische Armee auch Krieger ein, die zuvor als „barbarisch“ klassifiziert worden waren (Kapitel 6). Hier wurde das Stereotyp des „Barbaren“ positiv gewendet, was seinen Ursprung schon in älteren anthropologischen Studien seit Beginn der Kolonialzeit hat. Den „Barbarenkriegern“ wurde eine ihnen eigene Moralität zugestanden und sie wurden als besser für den Dschungelkrieg geeignet als japanische Soldaten eingeschätzt.
Heés Buch entfaltet seine Thesen vor einem anspruchsvollen und zugleich gut nachvollziehbaren theoretischen Hintergrund. Zur Verständlichkeit tragen nicht zuletzt eine hervorragende Einleitung und ein konzises Schlusskapitel bei. Positiv hervorzuheben ist außerdem das inhaltliche Einleitungskapitel „Historischer Kontext: Japans Kolonialismus global und lokal“ (S. 29–47), das einen konzisen Überblick über die japanische Kolonialgeschichte bietet. Ebenso überzeugend ist die globalgeschichtliche Einordnung des konkreten Einzelfalls: Immer wieder zeigt Heé Bezüge, Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit und zu anderen kolonialen Kontexten auf und zeigt sich dabei auf der Höhe der Literatur.
Ein zentrales Argument Heés freilich hat diesen Rezensenten irritiert. Eine für den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Wissen und kolonialer Herrschaft zentrale Dichotomie war zweifellos die von „zivilisiert“ und „unzivilisiert“ bzw. „barbarisch“. Diese Gegenüberstellung greift sowohl auf traditionelle ostasiatische Wissensbestände zurück als auch auf (für Ostasien) neue europäische, und sie sieht die Möglichkeit der Zivilisierung, des Ausgangs aus der Barbarei, grundsätzlich vor. Heé betont jedoch, dass sich zu diesen Kategorien „auch ein Klassifizierungssystem nach europäischen Maßstäben“ gesellte: „die taiwanische Bevölkerung wurde nun nach ‚rassischen‘ Kriterien geordnet und beurteilt“ (S. 74). Auf dieses Argument greift Heé häufig zurück, da sie über die Rückbindung an die wissenschaftliche Disziplin der Rassenanthropologie den Nexus zwischen Gewalt und Wissen plausibel zu machen versucht. Problematisch ist aber zum einen, dass die Behauptung, Rassenkriterien seien angelegt worden, nur selten durch Quellen aus dem japanischen bzw. taiwanischen Kontext belegt wird. Zum anderen hat doch gerade die von der Autorin betonte double bind-Konstellation verhindert, dass Rassenargumente in Japan prominent werden konnten. Überdies sind rassistische Auffassungen logisch mit der Annahme der Zivilisierbarkeit „minderwertiger Völker“ unvereinbar – diese Probleme werden von Heé angeschnitten, aber nicht erschöpfend diskutiert.
Die Arbeit ist auf der Grundlage des Studiums umfangreicher japanischer Primär- und Sekundärliteratur entstand; allerdings finden sich kleinere handwerkliche Fehler in dem Umgang mit japanischen Quellen. So liest Heé in der Überschrift zu einer Abbildung des Kolonialkrieges von 1895 „barbarische Schlacht“ (bansen), wo im Original nur „erbitterte Schlacht“ (funsen) zu lesen ist (S. 57). Bei Kapitulationszeremonien von „Banditen“ um 1900 sei es „zu organisierten Massakern sämtlicher Anwesender“ gekommen, behauptet Heé in einem Argumentationsschritt, der wesentlich für ihre These ist, dass die koloniale Gewaltausübung nach 1896 keineswegs abriss (S. 84f.). In den Quellen steht aber vielmehr ausdrücklich nicht, die „Banditen“ seien „bei Kapitulationszeremonien“ erschossen worden, sondern bei Zuwiderhandlung gegen den Erlass, der zur Kapitulation aufrief. Entsprechend lautet auch die Kategorie in einer Statistik zu erschossenen „Banditen“, die Heé zur Stützung ihrer Sichtweise heranzieht, „Widerstand gegen die Verhaftung“.
Diese Einwände schmälern den Gehalt der Studie von Heé jedoch nur wenig: Sie stellt zweifellos einen wertvollen Beitrag nicht nur zur historischen Japanforschung, sondern zur Erforschung kolonialer Praktiken und zur Globalgeschichte von Gewalt in der Moderne insgesamt dar.
Anmerkung:
1 Robert Eskildsen, Of Civilization and Savages. The Mimetic Imperialism of Japan’s 1874 Expedition to Taiwan, in: American Historical Review 107 (2002), S. 388–418, hier S. 389.