Dem Essen als ältester und wichtigster kulturellen Handlung des Menschen und somit einem sehr vielseitigen und ausdifferenzierten Tätigkeitsfeld, das beinahe alle Bereiche des menschlichen Lebens beeinflusst, wird der interdisziplinäre Sammelband in der Vielfältigkeit der Darstellungen gerecht. Dieser 28 Beiträge umfassende Sammelband zur Ernährungsgeschichte wurde von dem in dieser Fachdisziplin renommierten amerikanischen Historiker J. Pilcher organisiert. An dem Buch beteiligten sich vor allem amerikanische Experten, aber auch Forscher aus Australien und Kanada. Durch die Beteiligung von mehreren bekannten Historikern und Anthropologen stellt es eine gute, verlässliche Übersicht über den aktuellen Stand der anglophonen Ernährungsgeschichte dar und ist durch die gelungene und holistische Auswahl der Themen und Beiträge sowohl für Experten als auch für Einsteiger interessant. Durch die fundierte Ausarbeitung der Beiträge mit Nachweisen und Literaturverzeichnissen ist ein insgesamt durchaus empfehlenswertes Standartwerk für diesen Fachbereich entstanden und schließt somit an das bisherige Einstiegsreferenzwerk der Historiker Flandrin und Montanari an.1
Die Vielzahl der Beiträge wurde in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten Abschnitt wird eine methodische Herangehensweise an die Fachdisziplin dargestellt, die auf Ansätzen der französischen Historiker um Braudel und die Annales Schule beruhte und deren Wirken dementsprechend gewürdigt wird. Der zweite Beitrag bezieht sich auf die historische Entwicklung, Bedeutung von Ernährung und Hunger aus politischer Perspektive. Dabei wird eine Linie aufgezeigt von der Bedeutung im Kolonialismus, über den Völkerbund und die Vereinten Nationen bis zur aktuellen, globalen Ernährungspolitik.
Die Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Nahrungsforschung mit kultureller Perspektive wird anschließend von J. Pilcher überzeugend und überblickend dargestellt, da alle grundlegenden Forscher samt ihren Leistungen und Ansätzen erfasst werden. Im vierten Beitrag wird dann der Bezug genommen auf die Geschichte der Arbeit und Ernährung. Die Autorin spannt einen weiten, aber gut belegten Bogen von den Ursprüngen der menschlichen Nahrungsproduktion über den Übergang zur Domestizierung und Landwirtschaft bis zu den Veränderungen durch die frühe Globalisierung und den Imperialismus. Dabei geht sie auch auf den Wandel in der Arbeitswelt ein, im Sinne der Entwicklung zur Lohnarbeit um Nahrung zu kaufen. Eine Stärke des Beitrags ist hierbei die historische, globale Analyse der komplexen Zusammenhänge der Weltmarktproduktion zu Arbeitsverhältnissen und Konsumverhalten. Den Abschluss des methodischen Teils bildet dann ein Beitrag über die Ernährungsgeschichte aus öffentlicher Sicht, in Form der heutigen Relevanz der Ernährung und die Umsetzung in der Museumslandschaft als Darstellung der materiellen Kultur.
Das zweite Kapitel, „Food Studies“, bezieht sich in seinem Ansatz auf die Forschung zu Aspekten der Ernährung aus den unterschiedlichen Fachbereichen und Blickwinkeln. Dies ist ebenfalls gelungen und erweitert konstruktiv die historische Perspektive. In sechs Beiträgen werden die Bezüge zu Gender-Studies und anthropologischer, soziologischer, geographischer, ökotrophologischer sowie pädagogischer Disziplin thematisiert und erörtert. Besonders im Bereich der Ernährungsgeschichte ist eine interdisziplinäre Herangehensweise zu betonen und das Kapitel leistet somit Einsteigern einen guten Dienst um einen interdisziplinären Überblick zu bekommen.
Im dritten Kapitel analysieren fünf Beiträge die Bedeutung der Produktion. Dabei wird das Feld breit erfasst, von der Produktion im eigentlichen Sinne, als Landwirtschaft und Umweltgeschichte, dem Zusammenhang und Auswirkungen in den kolonialen Imperien bis zur industriellen Nahrungsproduktion und der Ernährungsweise Fast Food. Dieser Bereich umfasst aber auch die „Wissens- und Diskurs-“ Produktion in Form der Kochbücher. Diese sind wichtige, häufig unterschätzte, historische und kulturelle Quellen. Beispielsweise ergänzen sie die Wirtschaftsgeschichte essentiell, da beispielsweise die Information „Mais wurde gepflanzt, geerntet und transportiert“ nichts über die kulturell geprägte Verwendung des Lebensmittel aussagt, ob ein europäischer Kuchen, ein afrikanischer Maisbrei oder ein indigenes Spukbier aus dem Produkt hergestellt wurde.
Das vierte Kapitel erfasst die gewichtige Zirkulation von Essen, die aus historischer Perspektive ebenfalls nicht zu unterschätzen ist und sich vielfältig bis heute ausprägen, wie der Beitrag zu kulinarischem Tourismus aufzeigt. Aber auch die Konsequenzen aus den historischen Prozessen wirken sich aktuell aus, beispielsweise thematisiert im gelungenen Beitrag zum Kolumbianischen Austausch als aktualisierter Forschungsstand des Ansatzes aus dem Standardwerk von Crosby oder dem Beitrag der renommierten Migrationsforscherin Gabaccia über den Zusammenhang von Ernährung und Migration in der Weltgeschichte. Die Triebfeder der europäischen Expansion über den mittelalterlichen Gewürzhandel wird in diesem Kapitel ebenfalls behandelt. In zwei weiteren Artikeln wird anhand theoretischer Überlegungen zur Relation von Ernährung zu Zeit und Nahrungsregimen ein weiter Bogen gespannt, der die holistische Bedeutung der Nahrungsaufnahme als essentielle menschliche Alltagshandlung in größere Modelle überträgt.
Das abschließende fünfte Kapitel thematisiert unter der Überschrift Konsumgemeinschaften wiederum unterschiedliche Aspekte der Auswirkungen der Ernährung auf verschiedene Kategorien menschlicher Gemeinschaften. Ein Beitrag behandelt das Feld Essen und Religion und verdeutlicht an den Beispielen der fünf Weltreligionen die Interdependenzen der Nahrung mit dem Glauben, die sich nicht nur an den Tabus festmachen lassen.
In einem anderen Ansatz wird der Zusammenhang von Essen zur Ethnizität analysiert und somit die Bedeutung der Nahrungsforschung aus und für die anthropologische/ethnologische Perspektive unterstrichen. Der Beitrag „National Cuisines“ dekonstruiert berechtigter Weise den Mythos der Nationalküche am Beispiel der Russischen Küche. Andererseits zeigt sich aber auch die aktuelle Bedeutung der Ernährung als immaterielles kulturelles Erbe, das heute sowohl von der EU als auch in der UNO anerkannt wird und in enger Relation zur den jeweiligen Konstruktionen der nationalen Identität steht. Die Aktualität der Wahrnehmung der Ernährung in Forschung und Gesellschaft zeigt sich auch an den letzten beiden Beiträgen. So analysiert der Beitrag „Essen und ethischer Konsum“ ausgehend vom Vegetarismus und Veganismus heutige Überlegungen zum Wohlergehen der Tiere in der Lebensmittelindustrie, aktuellen Trends zu regionaler Produktion, organischen (Bio) Lebensmitteln bis zur gesellschaftlichen Reaktion auf gentechnisch veränderten Pflanzen. Aber auch Fair Trade, Müll, Überproduktion und Konsum werden thematisiert. Das letzte Kapitel untersucht den Zusammenhang von Essen und sozialen Bewegungen als solchen. Auch dieses modern anmutende Phänomen wird in seinen historischen Wurzeln v.a. des 20. Jahrhunderts dargestellt.
Dem breitem Feld und der Bedeutung der Ernährung für die Kultur und die globalhistorischen Entwicklungen wird dieser holistisch angelegte, interdisziplinär geprägte Sammelband somit durchaus gerecht.
Anmerkung:
1 Jean-Louis Flandrin /Massimo Montanari (Hrsg.), Food. A Culinary History, New York 2000.