Das hier zu besprechende Themenheft der Zeitschrift „Historische Anthropologie“ ist aus einer Konferenz zu „Locality and Transnational Processes. Modalities of Entanglement“ hervorgegangen, die im Mai 2011 von Felix Brahm und Angelika Epple vom Arbeitsbereich Allgemeine Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld ausgerichtet wurde.1 Es versammelt Beiträge einiger Teilnehmer/innen dieser interdisziplinären Konferenz, an der neben europäischen Historiker/innen, Anthropolog/innen und Soziolog/innen auch eine Gruppe von Wissenschaftlern des Korean Studies Institute der Pusan National University in Südkorea beteiligt war. Die Teilnahme der südkoreanischen Forschergruppe verdeutlicht das Anliegen der Veranstalter/innen Ethnozentrismus zu überwinden und einer Pluralität von Perspektiven auf Lokalität gerecht zu werden. Umgesetzt wird dieses Anliegen durch die Zusammenstellung von fünf themenspezifischen Beiträgen. Zwei nicht damit verbundene kulturhistorische Forumsbeiträge (ein Artikel von Annelie Ramsbrock zur Geschichte der Kosmetik als Technik der Verschönerung, sowie ein Text zum Einfluss der französischen Psychiatrie auf koloniale Darstellungen des Maghreb von Nina Salouâ Studer) ergänzen das Heft.
In das Thema leitet ein kurzer Einführungstext der Herausgeber/innen ein, der die Frage nach der Bedeutung von Lokalität aus der Perspektive der Globalisierungsforschung stellt. Es folgt ein konzeptioneller Beitrag Angelika Epples zu Lokalität als Dimension der Globalisierungsforschung. In ihrem systematischen Überblick verschiedener theoretischer Ansätze kritisiert sie den in der Globalisierungsforschung dominanten Eurozentrismus, den es durch eine Geschichte DER und IN Relationen zu überwinden gelte. Diesem programmatischen Text folgen vier Artikel, die stärker empirisch ausgerichtet sind. Dabei verbindet der Beitrag der türkisch-stämmigen Anthropologin Ayse Caglar Theorie und Empirie, um eine Kritik am methodologischen Nationalismus und der in der Migrationsforschung verbreiteten ‚ethnic lense‘ zu formulieren. Basierend auf empirischen Studien zur Bedeutung von Lokalität im Sinne der translokalen Beziehungen und der agency unterschiedlicher türkischer Migrantengruppen zeigt sie, dass das Phänomen von ‚Heimatvereinen‘ (Hometown Associations) mit der relationalen Positionierung von Städten auf einer globalen Skala im Kontext neoliberaler Transformationsprozesse in Bezug gesetzt werden kann. Implizit verweist sie damit auf die Relevanz von Analyseeinheiten auf einer mittleren Ebene, die auch im folgenden Artikel deutlich wird. Der Artikel des koreanischen Historikers Chul-Wook Cha beschreibt das Zusammenspiel von Koexistenz, Konkurrenz und Konflikt zwischen Japanern und Koreanern in Pusan in der Folge der japanischen Kolonialherrschaft am Beispiel der biographisch miteinander verbundenen Laufbahnen eines japanischen und eines koreanischen Geschäftsmanns. Dabei betont er die Verflechtungen verschiedener Institutionen auf nationaler, subnationaler und internationaler Ebene, wie Schulen oder Handelsorganisationen, Messen und Banken. In seinem Text zu historischen Darstellungen der Stadt Sansibar geht der deutsche Historiker Felix Brahm ebenfalls auf unterschiedliche Ebenen der Verflechtung und des Austauschs ein. Dabei betont er vor allem die Heterogenität der Repräsentationen von Lokalität und zeigt, wie sie für den symbolischen Ausdruck von Macht und Herrschaft verwendet und durch partikulare Interessen geprägt werden. Der Themenschwerpunkt wird abgeschlossen durch eine Reflektion des niederländischen Anthropologen Peter Geschiere zur Konjunktur des Begriffs von „Autochthonie“ als einem Konzept lokaler Zugehörigkeit, mit dem gleichzeitig Exklusionsforderungen artikuliert werden. Dabei betont er insbesondere die „hochgradig emotionale Anziehungskraft“ der Vorstellung von lokaler Zugehörigkeit.
Die Artikel zeigen sehr unterschiedliche Bedeutungsdimensionen von Lokalität aus der Perspektive translokaler Beziehungen und setzen damit das Anliegen der Herausgeber/innen um, Pluralität in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lokalität walten zu lassen. Dieses Anliegen stößt im vorliegenden Themenheft allerdings an Grenzen, wo es um den Praxisbezug der Konzeptualisierung des Lokalen und seine politischen Dimensionen geht. Dies lässt sich exemplarisch an der Agenda des Korean Studies Institute verdeutlichen, an dem 2007 ein von der National Research Foundation finanziertes, groß angelegtes Forschungsprogramm zu „Locality and Humanities“ eingerichtet wurde. 2 In diesem Programm wird Lokalität als Peripherie einer Staats- und Metropolen-zentrierten Moderne verstanden, die zu Identitätskrisen und zur Entfremdung marginalisierter, lokaler Bevölkerungsgruppen („the locals“), zu deren relativer Deprivation gegenüber dem Zentrum, sowie zu Konflikten in multikulturellen Settings geführt habe. Ökonomische und politische Ansätze zur Lösung dieser Krisen und Konflikte seien aufgrund ihres nur oberflächlichen Verständnisses der Problemlage gescheitert. Daher soll das interdisziplinäre Forschungsprogramm durch eine (Wieder-) Entdeckung und explizite Aufwertung des Lokalen nicht nur ein „fundamentaleres“ Verständnis vermitteln, sondern auch Theorie und Praxis verbinden, um langfristige Lösungsansätze zu finden.
Im Gegensatz zu diesem Programm kritisieren die Herausgeber/innen des Themenhefts den Mangel an kritischer Reflektion des Lokalen und seine „neuerliche Aufladung mit Authentizität und Tradition“. Ein solches Verständnis des Phänomens falle hinter die sich seit dem ‚spatial turn‘ in verschiedenen Disziplinen allmählich durchsetzende Grundüberzeugung zurück, dass Räume sozial und kulturell konstruiert sind. Mit dieser etwas lapidaren Begründung ihres Standpunkts in der Einleitung vermeiden die Herausgeber/innen nun allerdings eine weitere Diskussion des historischen und politischen Zusammenhangs zwischen der wissenschaftlichen „Wende zum Raum“ (Bachmann-Medick) 3 einerseits und einer „zunehmenden Sorge um lokale Zugehörigkeit“ (S. 85) andererseits, mit der sich Peter Geschiere aus einer historisch und regional vergleichenden Perspektive auseinandersetzt. Dabei stellt er (mit Bezug auf Tania Murray Li) die Verbindung zu einer „deep conjuncture of belonging“ her, die unsere Ära der Globalisierung auszeichne und insbesondere seit den 1990er Jahren in verschiedenen Regionen der Welt erkennbar geworden sei. Eine stärkere Reflektion dieser historischen ‚conjuncture‘ hätte man sich in der Einleitung zum Themenheft sehr gewünscht, gerade im Hinblick auf die jeweiligen Arbeitsschwerpunkte der Herausgeber/innen. Alle drei sind (deutsche) Historiker/innen, die sich aus machtkritischer Perspektive mit dem Zusammenhang von Ungleichheiten und Asymmetrien auf Mikro- und Makroebene beschäftigt haben, insbesondere in Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte. Felix Brahm‘ Arbeiten zeichnet ein doppelter Fokus aus. Einerseits betreibt er transregionale Geschichtsschreibung, wobei die Verbindungen zwischen europäischer und afrikanischer Geschichte im Kontext des Kolonialismus und der Dekolonisation im Zentrum stehen. Anderseits hat er sich auch intensiv mit Wissenschafts- und Universitätsgeschichte beschäftigt. Aus einer solchen Perspektive hätte eine Reflektion des Hintergrunds der verschiedenen Beiträge des Themenhefts interessante Fragen hinsichtlich transnationaler Verflechtungen (und Verwerfungen) aufwerfen können: welche Rolle spielen die disziplinäre Verortung der Autoren/innen, die institutionellen Rahmenbedingungen ihrer Forschungen und die persönlichen Beziehungen zu ihrem jeweiligen Forschungsgegenstand für ihr Konzept von Lokalität? Welche Grenzen der Übersetzbarkeit gibt es?
Diese Fragen drängen sich bei der Lektüre der einzelnen Beiträge auf, bleiben aber unbeantwortet, da die Herausgeber/innen ihre Auswahl und den konkreten Zusammenhang der Artikel selbst nicht erklären. Ein Hinweis auf die dem Themenheft vorausgehende Konferenz sowie auf die dort ausgetragenen Kontroversen wäre diesbezüglich sehr hilfreich gewesen und hätte als Anlass dienen können, auf die spezifische Wirkkraft des Begriffs von Lokalität, seine aktuelle Bedeutung und Brisanz in der gesellschaftspolitischen (inklusive der akademischen) Praxis einzugehen. Auch die Frage, was die Relevanz und Aktualität des Themas speziell aus der Perspektive der „Historischen Anthropologie“ ausmacht, bleibt offen. Rebekka Habermas, Mit-Herausgeberin dieses Themenhefts wie auch der Zeitschrift selbst, verbindet mit Angelika Epple die Präferenz für einen mikrogeschichtlichen Zugang zu Globalisierungsprozessen sowie ein besonderes Interesse an Geschlechtergeschichte. Es hätte sich sicher gelohnt, Erkenntnisse aus diesem Bereich der Geschichtsforschung in die Reflektion des Begriffs von Lokalität, nicht nur im Sinne einer analytischen, sondern auch einer politischen und hoch emotional besetzten und moralisch aufgeladenen Kategorie der Differenz mit einzubringen. Inwieweit Lokalität durch (nationale, ethnische, religiöse, geschlechtsspezifische, usw.) Differenzzuschreibungen bestimmt wird, ist eine spannende und wichtige Frage. Sie wird in der Einleitung nur ganz flüchtig angerissen – vielleicht weil sie die Gefahr birgt, den sicheren Boden theoretisch konsistenter und sauberer Argumentation zu verlassen, den Angelika Epple in ihrem konzeptuell so klaren und erhellenden Übersichtsartikel aufspannt. Darin erklärt sie zwar wie und warum der ‚spatial turn‘ zur Überwindung des ‚national container‘-Modells geführt hat, geht jedoch nicht auf die Bedeutung von Transnationalität ein.
So bleibt letztlich ungeklärt, warum für den Titel des Themenhefts der Begriff „transnationale Verflechtungen“ gewählt wurde, obgleich die einzelnen Beiträge zwar die vielschichtige Bedeutung von Translokalität verdeutlichen, jedoch kaum etwas explizit zu transnationalen Beziehungen sagen. Sie legen allerdings nahe, dass mit einer Auflösung des Globalen „in die nicht zählbare, stets in Bewegung befindliche Menge seiner translokalen Beziehungen“ (S. 25) auch eine Reflektion des Nationalen in der Menge der empirisch implizit aufgezeigten transnationalen Beziehungen einhergehen muss, um die Debatte über Lokalität voranzutreiben. Damit liefert das Heft nicht nur interessante theoretische Ansätze und fruchtbare Denkanstöße für eine interdisziplinäre Diskussion zu einem hochaktuellen Thema, sondern auch dichtes und sorgfältig ausgewähltes empirisches Material, um über weiterführende Fragen nachzudenken.
Anmerkungen:
1http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=3717&view=pdf&pn=tagungsberichteberichte
2 Das Ziel des Programms ist die Entwicklung eines umfassenden theoretischen Ansatzes im Sinne einer „Localitology“, die dem vorherrschenden Nationalismus und Staats-Zentrismus der modernen ‚humanities‘ in Südkorea ein aufwertendes Konzept von Lokalität entgegensetzt: „localitology attempts […] to discover the values of locality, locales and locals.” Dieser Ansatz soll zur Lösung von Problemen beitragen, unter denen lokale Bevölkerungsgruppen leiden, wie z.B. „the sense of alienation and defeatism, the relative sense of envy and jealousy to the centre, identity crisis in locality and conflicts in multicultural locality”. http://locality.kr/sub/e_sub01_01.php
3 Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (2. Auflage), Reinbek bei Hamburg 2007, S. 284-328.