Der Sammelband „Beyond the Divide“ will dazu anregen, den Kalten Krieg nicht länger nur als einen Kampf zweier Systeme, als politisch-ideologische, wirtschaftliche und militärische Konfrontation zweier Blöcke zu denken. In 14 Kapiteln präsentieren hier größtenteils jüngere Geisteswissenschaftler/innen ihre Forschungen zu den Interaktionen und Kooperationen zwischen Ost und West sowie dritten Ländern in Europa. Sie belegen die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs und ergänzen so die Geschichte des Kalten Krieges um aufschlussreiche transnationale Perspektiven.
Die Idee zu diesem Band über „entangled histories“, ergo gemeinsame Geschichte(n) eines geteilten Europas, entstand während einer Konferenz in Jyväskylä, Finnland, im Sommer 2012. Die Herausgeber Simo Mikkonen und Pia Koivunen hinterfragen in der Einleitung, wie eisern der Eiserne Vorhang wirklich war: Bestand Europa zwischen 1945 und 1989 tatsächlich aus zwei komplett voneinander getrennten Blöcken? Im Lichte der jüngeren Forschung mutet diese Frage beinahe rhetorisch an. Auf das klare Nein folgen im Schnelldurchgang konzeptionelle und theoretische Ansätze zu Cold War Studies, der National- und Transfergeschichte, der Histoire Croisée bis zur hier angewandten transnationalen Geschichtsschreibung.
Obwohl die Perspektive auf bilaterale Kontakte überwiegt, wird der multilaterale internationale Rahmen stets mitgedacht. Es geht in „Beyond the Divide“ zudem nicht nur um ‚big players‘ wie die Sowjetunion, Polen oder Frankreich, sondern auch um ‚Exoten‘ wie Finnland, die Schweiz und Dänemark, die nicht unbedingt zum Standardrepertoire der Cold War Studies zählen. Um transnationale Beziehungen und Netzwerke zu erforschen (top-down wie bottom-up), haben die Autorinnen und Autoren offizielle und private Archive in verschiedenen Ländern konsultiert; dieses Material komplementieren sie oft mit Quellen und Analysen der Oral History. Bemerkenswert ist das kritische Abwägen von Rahmenbedingungen und individuellem Engagement, das viele Beiträge kennzeichnet. Welchen Handlungsspielraum gab es, wie wurde dieser genutzt oder erweitert? Wie repräsentativ sind die vorgestellten Beispiele? Auch wenn solche Fragen nicht expliziert oder systematisiert werden, wägen viele Autorinnen und Autoren doch gerade diese Ebenen gegeneinander ab. Besonnen und kritisch beurteilen sie die Wirkungsmacht ihrer Fallbeispiele für internationale Prozesse damals und unser Geschichtsverständnis heute.
Der erste Teil ist „Political Processes and Transnational Networks“ gewidmet. Giles Scott-Smith befasst sich mit der „parallel diplomacy“ (S. 23) niederländischer Kalter Krieger, die er als „policy entrepreneurs“ (S. 28) bezeichnet. Interessant ist Marianne Rostgaards Analyse eines dänisch-polnischen Austauschprogramms, des Jugendleiterseminars, als „agent of change“ (S. 47) in den Jahren 1965–1975. Trotz der ideologischen Unterschiede besonders der teilnehmenden dänischen Organisationen standen gemeinsame Erlebnisse und Ziele im Vordergrund – allen voran Friede, Sicherheit und Fortschritt in Europa. Laut Rostgaard diente das Programm in den 1970er-Jahren sogar als Vorbild für den KSZE-Prozess. Im Aufsatz „Transmitting the ‚Freedom Virus’“ präsentiert Nicolas Badalassi den Hegemonialanspruch Frankreichs auf europäische Kultur. Mit den Vorschlägen zu fremdsprachlichen Leseräumen und ausländischen Filmvorstellungen während der KSZE-Verhandlungen wollte man sich nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch gegen die Amerikaner behaupten. Matthieu Gilabert beschreibt für die Jahre 1956–1975, wie staatliche und nicht-staatliche Akteure in der Schweiz die Nachteile der Neutralität ihres Landes erkannten und zu überwinden suchten.
Im zweiten Teil, „Interplay in the Academic Contexts“ [sic], erkundet zunächst Sampsa Kaataja die Zusammenarbeit von Computerexperten in der estnischen Sowjetrepublik und in Finnland. Dabei gelingt dem Autor auf spannende Weise der Schwenk von den 1960er-Jahren bis in die 1990er. Im Zentrum steht das Institut für Kybernetik in Tallinn, welches aus Moskau die finanziellen Mittel und auf teilweise kreativen Umwegen aus Helsinki materielle Ressourcen wie Modems und Apple-Computer bezog. Beatrice Scutaru setzt sich mit dem akademischen Austauschprogramm zwischen Frankreich und Rumänien in den 1960er-Jahren auseinander, welches von Schwierigkeiten, Skepsis und Vorbehalten geprägt war.
Anssi Halmesvirta betrachtet für ihre Studie „Hungary Opens toward the West“ das „rosarote“ (S. 139) Finnland als Partner Ungarns für Forschung und Entwicklung in den 1960er- und 1970er-Jahren. Halmesvirta zufolge glänzten Staatspräsident Urho Kekkonnen und der Erste Sekretär János Kádár hier durch Pragmatismus und Einvernehmen. Ioana Popa präsentiert die erste wirklich transnationale Organisation in diesem Band, die „diskret“ (S. 152) handelnde Fondation pour une entraide intellectuelle européenne. Mit rechtlichem Sitz in der Schweiz, dem Büro aber in Paris und Finanziers in den USA ermöglichte diese 1966 gegründete Stiftung Osteuropäern Stipendienaufenthalte im Westen. Zudem verschickte sie angeforderte Bücher und Zeitschriftenabonnements in den Ostblock.
In dritten und vielleicht spannendsten Teil, „Limitations for Transnational Networks“, analysiert Václav Šmidrkal zunächst die Beziehungen zwischen französischen und tschechoslowakischen Kommunisten seit den 1930er-Jahren sowie Versuche in der frühen ČSSR, französische Kunst und Kultur zu vereinnahmen. Sonja Großmann beschäftigt sich mit pro-sowjetischen „Freundschaftsgesellschaften“ in England, Frankreich und Westdeutschland. Statt sie als naive Sympathisanten oder fünfte Kolonnen abzutun, gelingt Großmann eine längst überfällige Studie zu deren Aktivitäten und Intentionen sowie tatsächlichen Verbindungen nach Moskau. Hervorzuheben ist auch Sarah Davies’ überzeugende Studie zum britischen russischsprachigen Magazin „Anglia“, welches von 1962 bis 1992 für den sowjetischen Markt publiziert wurde. Die Diskussionen über geeignete Themen, den angemessenen Ton sowie die Konkurrenz mit dem US-Magazin „Amerika“ [sic] (S. 218) zeichnet Davies auf fast unterhaltsame Weise nach.
Neues für viele Leser birgt wahrscheinlich Lars Lundgrens Beitrag zu den internationalen Zusammenschlüssen der European Broadcasting Union und der International Organization of Radio and Television, der den vierten und letzten Teil „Along the Borderlines“ eröffnet. Lundgren bietet das volle Spektrum des Kalten Krieges: institutionelle und systemische Konkurrenz, territoriale Hoheitsansprüche, Wettkampf um die „Dritte Welt“ sowie Zusammenarbeit und Austausch. Im Aufsatz „Transnational Spaces“ verfolgt die Anthropologin Anna Matyska die Geschicke von in Finnland lebenden Polen und die finnische Solidarität mit Solidarność.
Zu guter Letzt beschäftigt sich Francesca Rolandi mit den kulturellen Verbindungen Italiens und Jugoslawiens während der Jahre 1955 bis 1965. Sie erläutert, wie dank der geographischen Nähe, des italienischen Radios und jugoslawischer Piratensender italienische Popmusik – und nicht das amerikanische Vorbild – jenseits der Adria an Popularität gewann. Bald erfreuten sich dort auch italienische Musikfestivals und Filme immer größerer Beliebtheit. Die besondere geopolitische Lage, so Rolandi, machte aus beiden Ländern „Gateways“ respektive zum Westen oder zum Osten (S. 291).
Der Sammelband „Beyond the Divide“ setzt den Trend der die Verflechtungen betonenden Cold War Studies vergangener Jahre fort.1 Gut 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und 12 Jahre nach der EU-Osterweiterung von 2004 entsprechen transnationale Studien dem Zeitgeist. Diesem Ansatz folgend haben im Bereich Dissens und Protest etwa bereits Robert Brier2, Friederike Kind-Kovács und Jessie Labov3 exzellente Studien veröffentlicht. Leser/innen sollten also keine großartigen theoretischen Neuheiten erwarten. Ein Fazit der Herausgeber zum historiographischen Ertrag des hier vorgestellten Bandes, zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Fallbeispiele sowie eine Zusammenfassung der Erkenntnisse hätten die sehr übersichtliche und hilfreiche Einführung sinnvoll ergänzt.
Zu bemängeln ist, dass einige Aufsatztitel den jeweiligen Inhalt unzureichend widerspiegeln und Leser daher irritieren könnten. Auch das Prinzip der Kapitel-Unterteilungen ist nicht unbedingt ersichtlich. Weitere Abbildungen wie in den Beiträgen von Popa oder Šmidrkal wären hilfreich. Die sprachliche Qualität schwankt leicht. Zu erklären ist Letzteres natürlich dadurch, dass viele der Autorinnen und Autoren mit (mindestens) drei Sprachen jonglieren: zwei (oder noch mehr) für die Quellensichtung und Englisch für die Veröffentlichung.
Inhaltlich ist der Band gleichwohl eine Bereicherung. Die Studien bieten überzeugende, in der Auswahl originelle historiographische Beispiele, wie es möglich ist, den Kalten Krieg nicht nur antagonistisch zu denken. Sie liefern einen interessanten Zugang zu verschiedenen Ländern, Forschungsdisziplinen, akademischen und kulturellen Kontexten. Gerade die Vielseitigkeit der Fallbeispiele und Quellen sollte Fachleute wie Neueinsteiger begeistern.
Anmerkungen:
1 Sari Autio-Sarasmo / Katalin Miklóssy (Hrsg.), Reassessing Cold War Europe, London 2011.
2 Robert Brier (Hrsg.), Entangled Protest. Transnational Approaches to the History of Dissent in Eastern Europe and the Soviet Union, Osnabrück 2013.
3 Friederike Kind-Kovács, Written Here, Published There. How Underground Literature Crossed the Iron Curtain, Budapest 2014; dies. / Jessie Labov (Hrsg.), Samizdat, Tamizdat, and Beyond. Transnational Media During and After Socialism, New York 2013.