Diskurse über ein Weltbevölkerungsproblem und globale Bevölkerungspolitik finden seit nun mehr fast einem Jahrzehnt verstärkte Aufmerksamkeit in der Geschichtswissenschaft. Auf Matthew Connellys 2008 erschienene Pionierarbeit zum Aufstieg eines transnationalen population establishments folgten Studien, die sich unter anderem mit der Geschichte von demographischen Wissensbeständen oder Familienplanung beschäftigten.1 Dass dabei noch längst nicht alle Facetten der globalen Bevölkerungsdiskurse untersucht worden sind, zeigt die Monographie der australischen Historikerin Alison Bashford, die 2014 in New York erschienen ist. In ihrem vierten Buch arbeitet die Autorin die unterschiedlichen Wissensstränge heraus, die das ‚Weltbevölkerungsproblem‘ in der Zwischenkriegszeit formten. Sie geht dabei besonders der Frage nach, wie ein „geopolitical problem about sovereignty over land gradually morphed into a biopolitical solution, entailing sovereignty over one’s person“ (S. 3).
Ihr ambitioniertes Anliegen ist es, unterschiedliche geschichtswissenschaftliche Perspektiven auf Bevölkerung miteinander zu verknüpfen: die Geschichte von Ernährungspolitik, Feminismus, Ökologie, internationale Beziehungen und Migration. Sie greift hierfür auf die wissenschaftlichen und politischen Debatten einer transnationalen Expertencommunity zurück, die sie geographisch im angelsächsischen Raum und zeitlich im Kontext der Weltbevölkerungskonferenz von 1927 verortet. Zu diesen „multidimensional interwar problematizers of population“ (S. 5) zählt Bashford Vertreter unterschiedlichster wissenschaftlicher Fachrichtungen, wie beispielsweise den Biologen Raymond Pearl, den Demographen Warren S. Thompson oder den indischen Ökonom und Soziologen Radhakamal Mukerjee. Auf den publizierten und archivierten Schriften dieser und vieler weiterer Experten stützt Bashford ihre Analyse. Ergänzend hierzu bezieht sie zudem Bestände von Organisationen (Völkerbund und ILO) ein, die im Zusammenhang mit bevölkerungshistorischen Fragestellungen bislang kaum untersucht wurden.
Bashford wählt einen für die Geschichte der Bevölkerungspolitik ungewöhnlichen Zeitraum: Im Gegensatz zu anderen Studien, die sich auf den Krisendiskurs um Bevölkerung im Kontext des Kalten Krieges konzentrieren, identifiziert die Autorin die Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen als bedeutend für die Problematisierung von Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert und stellt die 1920er- und 1930er-Jahre in den Mittelpunkt ihrer chronologisch gegliederten Arbeit: Ausgehend von Thomas Robert Malthus analysiert sie im ersten Teil die intellektuellen Verbindungen zwischen politischer Ökonomie und Naturforschung im 19. Jahrhundert. Im zweiten Teil arbeitet die Autorin heraus, wie Bevölkerungswachstum im Kontext des Ersten Weltkrieges und des Versailler Friedens vor allem in räumlich-geopolitischen Dimensionen problematisiert wurde. Auch der dritte Teil, in dem Bashford die diskursiven Knotenpunkte zwischen Biologie und Sozialwissenschaften, Agrar- und Ernährungswissenschaften sowie Eugenik und internationalen Beziehungen darlegt, bezieht sich auf die Zwischenkriegszeit. In ihrem letzten Kapitel verfolgt die Autorin die Bevölkerungsdebatten bis in die 1960er-Jahre.
Die große Stärke des Buches liegt darin, dass Bashford gekonnt die geopolitischen Dimensionen eines Diskurses über Bevölkerung mit der Geschichte des Neomalthusianismus verbindet und die enge Verzahnung von Geopolitik und Biopolitik in den Bevölkerungsdebatten sichtbar macht. Sie hinterfragt damit auch die in bevölkerungshistorischen Arbeiten dominierende Tendenz, Bevölkerungspolitik hauptsächlich im Zusammenhang mit Fertilitätsregulierung, Gesundheitsdiskursen und reproduktiven Rechten zu konzeptualisieren. Mit ihrer Studie kann die Autorin stattdessen aufzeigen, dass zeitgenössische Experten der Zwischenkriegszeit Bevölkerung gleichermaßen als räumlich-geopolitisches und biopolitisches Problem verstanden. Gelungen arbeitet sie heraus, wie sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und einer frühen Dekolonisation die Vorstellung einer sich verschließenden Welt verfestigte, in der die Möglichkeiten, ‚neues‘, nutzbares Land und Nahrung für eine wachsende Bevölkerung zu erschließen, zu schwinden schienen. Nicht etwa Bevölkerungswachstum per se, sondern die Verteilung von Bevölkerungsgruppen im Raum, also Bevölkerungsdichte, stand laut Bashford im Zentrum dieser wissenschaftlichen und politischen Debatten. Dass nicht die Gesundheitsabteilung des Völkerbundes, sondern dessen Wirtschaftssektion das Bevölkerungsproblem auf internationaler Ebene zur Sprache brachten und Bevölkerung häufig im Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit von Land und Boden (und nicht mit menschlicher Fertilität) diskutiert wurde, stützt Bashfords zentrales Argument von der Bedeutung geopolitischer Debatten im globalen Diskurs über Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit (S. 77). Nahrungssicherheit, gemeinsam mit sicherheitspolitischen Überlegungen, war so auch ein wichtiges Argument zur Befürwortung von Geburtenkontrolle. Und dies nicht nur für männliche Experten, sondern auch für Geburtenkontrollaktivistinnen wie Margaret Sanger. Zeitgleich waren Debatten über ‚Lebensraum‘, Ernährung oder Migration eng verflochten mit klimatheoretischen, biologistischen und eugenischen Diskursen. Luzide verdeutlicht Bashford hier die unterschiedlichen Schattierungen von anglophonen Verfechtern der Eugenik: Neben nationalistischen Stimmen waren antirassistische Genetiker sowie Internationalisten, die eine „biological version of cosmopolitan world citizen“ (S. 253) entwarfen, zu vernehmen.
Wichtig ist die Studie auch deshalb, weil die Autorin die Bedeutung der Zwischenkriegsdebatten für den Krisendiskurs um Bevölkerung nach 1945 herausarbeitet. Stärker als vorherige Arbeiten kann sie so aufzeigen, wie Zivilisationsideen die Theorien der demografischen Transition formten und wie ökologische Debatten über Bodenerosion, Naturschutz und Bevölkerungskontrolle institutionell und konzeptionell mit einer Umweltschutz- und Familienplanungsbewegung der Nachkriegszeit verbunden waren. Nicht nur die antikommunistische Agenda des Kalten Krieges, ein dominantes Narrativ in der bevölkerungshistorischen Forschung, sondern auch in der Zwischenkriegszeit verwurzelte Fragen nach Nahrungssicherheit und globalen Energiebedürfnissen prägten also laut der Autorin das Krisennarrativ über Bevölkerung nach 1945 (S. 288f.). So sei die Verlagerung des intellektuellen Diskurses weg von Bevölkerungsdichte und einer globalen Regulierung von Migration hin zu Fertilität und Mortalität als Reaktion darauf zu verstehen, dass Zeitgenossen nach 1945 geopolitische Ansätze international und politisch für schwer durchsetzbar hielten. In der Nachkriegszeit erschien Geburtenkontrolle nun als probateres Mittel. Legt die Autorin dabei überzeugend die Übersetzung eines geopolitischen Problems in biopolitische Lösungsansätze in der Nachkriegszeit dar, erläutert sie nur in Ansätzen, inwieweit dieser Wandel etwa auf eine neue Weltordnung, die sich mit dem Kalten Krieg etablierte, zurückzuführen ist.
Die Art und Weise, wie die Verfasserin die Geschichte von Migration, Eugenik, Malthusianismus, Umweltbewegung, Ökonomie und Ökologie miteinander verknüpft, beeindruckt. Die große Bandbreite an Themen, Diskursen und Akteuren kann in dieser Rezension nur bedingt abgebildet werden. Der komplexe Zugriff auf das ‚Weltbevölkerungsproblem‘ und die große Anzahl an Akteuren, deren Werke die Autorin (zu) detailliert beschreibt, erschweren jedoch die Lektüre und verstellen hin und wieder den Blick auf die zentralen argumentativen Punkte. An manchen Stellen trifft die Autorin zudem zu allgemeine Aussagen zur Forschungsdebatte (S. 240 und S. 280). Etwa wäre bei ihrem wichtigen Hinweis, Eugenik und Neomalthusianismus seien enger verzahnt gewesen als bislang von Historiker/innen angenommen (S. 241), eine klarere Abgrenzung zu früheren Studien, beispielsweise von Clarke, Hodgson oder Schneider,2 wünschenswert gewesen. Auch verspricht der Titel der Studie Globalität, jedoch beschränkt sich die Autorin auf klassische Expertenfiguren des angelsächsischen Raums. In diesem Zusammenhang fehlt eine Reflektion über die Bedeutung von nicht-angelsächsischen Experten und Bevölkerungsdebatten aus anderen Weltregionen sowie von transnationalen Wissensbeständen für die Konstitution eines ‚Weltbevölkerungsproblems‘.
Insgesamt legt Bashford jedoch eine detailreiche und spannende Arbeit vor, die bisherige Studien zur Thematik eindrucksvoll komplementieren und vertiefen kann. Historiker/innen der Geschichte von Bevölkerungswissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ermahnt es, stärker die unterschiedlichen Stränge des Bevölkerungsdiskurses, gerade im Hinblick auf Migration und dessen räumliche Dimension, herauszuarbeiten. Zu Recht hat sich Bashfords Monographie bereits als unverzichtbare Lektüre für diesen geschichtswissenschaftlichen Bereich etabliert.3 Doch auch für Historiker/innen, die sich mit globaler Ernährungspolitik, Ökologie oder Migration in der Zwischenkriegszeit beschäftigen, ist die Arbeit von hohem Wert.
Anmerkungen:
1 Matthew Connelly, Fatal misconception. The struggle to control world population, Cambridge, Mass. 2008. Zu Familienplanung siehe z. B. Raúl Necochea López, A history of family planning in twentieth-century Peru, Chapel Hill 2014. Zu demographischen Wissensbeständen siehe bspw. den Sammelband Heinrich Hartmann / Corinna Unger (Hrsg.), A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York 2014.
2 Adele Clarke, Disciplining reproduction: modernity, American life sciences, and the ‘problem of sex’, Berkeley 1998; Dennis Hodgson, The Ideological Origins of the Population Association of America, in: Population and Development Review 17 (1991) 1, S. 1–34; William H. Schneider, Quality and quantity: the quest for biological regeneration in twentieth-century France, Cambridge 1990.
3 Etwa in The Population Knowledge Network (Hrsg.): Twentieth century population thinking: a critical reader of primary sources, London 2016.