Rana Mitter, der bereits mit einer exzellenten Arbeit zum chinesischen Nationalismus in der Mandschurei hervorgetreten ist 1, bietet mit „A Bitter Revolution“ eine Gesamtdarstellung der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. Die beiden Epochen der Republik (1912-49) und der Volksrepublik (seit 1949) werden in diesem Werk zusammengeführt, und die Einheitlichkeit dieses Jahrhunderts wird hervorgehoben. Als Ausgangspunkt wählt Mitter die 4. Mai-Bewegung von 1919, deren Auswirkungen er auch in der gegenwärtigen Politik und Kultur des Landes erkennt. Im „Geist vom 4. Mai“ spiegelt sich für ihn das gesamte 20. Jahrhundert wider.
Aus einer solchen Perspektive relativiert sich auch die Bedeutung von 1949 als Epochenereignis. Mitter wählt eine andere Unterteilung des Jahrhunderts, indem er eine erste Phase der unmittelbaren Ereignisse der 4. Mai-Bewegung um 1919, die er als „shock“ bezeichnet, von einer Periode der Nachwirkungen des 4. Mai, „aftershock“ genannt, unterscheidet, die er um 1931 beginnen lässt. In seiner Darstellung geht Mitter chronologisch in Schritten von jeweils zwei Jahrzehnten voran und widmet den 1920er, 1940er, 1960er, 1980er-Jahren und der Wende zum 21. Jahrhundert jeweils eigene Kapitel. Räumlich konzentriert sich sein Werk auf die beiden Metropolen Beijing und Shanghai und damit auf die Perspektive der Veränderungen städtischer Lebenssituationen und Ideenwelten.
Vier einflussreiche Persönlichkeiten der 4. Mai-Generation tauchen immer wieder im Verlauf der Darstellung auf, können allerdings nicht den ihnen vom Autor zugedachten roten Faden durch die Geschichte des Jahrhunderts bilden, da drei von ihnen bereits vor Gründung der Volksrepublik China gestorben sind. Es handelt sich um die beiden Publizisten Zou Taofan (1895-1944) und Du Zhongyuan (1898-1944), dann um Chinas berühmtesten Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Lu Xun (1881-1936) sowie um die Schriftstellerin Ding Ling (1905-86), die als einzige der vier fast das gesamte Jahrhundert erlebte. Mit Hilfe dieser vier Personen und ihrer Aktivitäten bemüht sich Mitter darum, weniger die Ereignisgeschichte, als die Atmosphäre des Jahrhunderts zu erfassen. Entsprechend werden einzelne Kapitel beispielsweise „Experiments in Happiness“ oder „Goodbye Confucius“ genannt.
Bei den Ereignissen des 4. Mai 1919 interessiert Mitter weniger der Sieg der jungen, progressiven Kräfte der 4. Mai-Generation über die Konservativen (S. 105), der sich in den älteren Geschichtsbüchern nachlesen lässt, als vielmehr die Gefühlswelt der beteiligten Studenten, Geschäftsleute und Arbeiter, die sich damals durchaus als Teil einer globalen Gesellschaft betrachteten. Zum Ikonoklasmus dieser Zeit gehörte ein Gefühl der Bodenlosigkeit (S. 110), aber auch der Begriff der „Neuheit“, der alles durchdrang. So sprach man damals vom „neuen Leben“, von „neuen Bürgern“, von der „neuen Jugend“ und von einer „neuen Zivilisation“ (S. 108). Da der traditionelle Konfuzianismus seine identitätsstiftende Wirkung verloren hatte, entwickelte sich der Nationalismus zur bestimmenden Ideologie der 4. Mai-Generation (S. 117). Nach Gründung der nationalchinesischen Regierung unter Chiang Kaishek im Jahre 1927 beschränkte er sich zunehmend auf seine antiimperialistische Variante. Die Wiedererlangung territorialer Souveränität und die Schaffung eines stabilen Nationalstaates wurden als vordringlichste Aufgabe der chinesischen Republik betrachtet (S. 150). Die 1921 entstandene Kommunistische Partei wurde in den Untergrund und ins ländliche Hinterland verdrängt; der von Chiang Kaishek diktatorisch geführte „development state“ (S. 151) dominierte die Städte. Damit endet Mitters erste Phase, jedoch nicht die 1919 ausgelöste Revolution.
Im zweiten Teil („aftershock“) beschreibt Mitter die Jahrzehnte zwischen 1931 und 1972 als eine Wendung nach Innen sowie als eine Abfolge von Katastrophen (S. 155f.). Chinas anti-japanischer Widerstandskrieg (1937-45) stellte den längsten Einzelkonflikt des Zweiten Weltkrieges dar. Innenpolitisch löste politische Orthodoxie das freie Denken der 4. Mai-Periode ab. Von den dominierenden Akteuren wurden dabei unterschiedliche Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung Chinas gezogen. Chiang Kaishek verurteilte die starke „Verwestlichung“ der 4. Mai-Generation, da sie sich zerstörerisch auf das Selbstbewusstsein, die Wirtschaft und den Lebensstil der Chinesen ausgewirkt habe (S. 175). Sein politischer Gegner Mao Zedong hingegen fühlte sich weiterhin den Idealen der 4. Mai-Bewegung verpflichtet und interpretierte die 4. Mai-Bewegung als Geburtsstunde des chinesischen Proletariats, das sich in dieser Phase als unabhängige politische Kraft etabliert habe (S. 176). Ikonoklasmus, Invidualismus und freies Denken der 4. Mai-Periode überlebten jedoch die wachsende politische Polarisierung nicht (S. 181).
Nach dem Sieg Mao Zedongs 1949 verstärkte sich die Politisierung der chinesischen Gesellschaft. Die 4. Mai-Bewegung wurde in die Aufstiegsgeschichte der Kommunistischen Partei eingeordnet. Der chinesische Nationalismus, der sich in der Republikzeit noch nach außen gewandt und an Vorbildern wie Mahatma Gandhi und Kemal Atatürk orientiert hatte, kehrte sich nun vollkommen nach innen. Die Hauptstadt Beijing wurde durch ihre Sowjet-Architektur auch physisch in ein Symbol der neuen sozialistischen Welt verwandelt. Shanghai hingegen galt als Symbol von Dekadenz, Kosmopolitanimus und Pluralismus, und seine Bevölkerung wurde radikalen Umerziehungskampagnen ausgesetzt. Im Gegensatz zum China der 4. Mai-Ära gab es in Maos China keinen Fluchtort mehr.
Der Pluralismus der Republikzeit war endgültig erloschen. Nichtübereinstimmung mit der Regierungslinie bedeutete vielfach den Tod. Jegliches Interesse an der Außenwelt wurde unterdrückt (S. 191). Die Organisation der Volkskommunen Ende der 1950er-Jahre zerstörte die letzten sozialen Bindungen der patriarchalischen Gesellschaft vor 1949 (S. 195). Der „Große Hunger“ von 1959-61, der auf die radikalen Reformen des „Großen Sprungs“ folgte, erfasste im Gegensatz zu früheren Hungerkatastrophen nunmehr ganz China und führte zu ca. 30 Millionen Toten.
Während der Kulturrevolution erfuhren zwei der von Mitter ausgewählten Persönlichkeiten der 4. Mai-Generation sehr unterschiedliche Schicksale: Ding Ling verbrachte Jahre in Arbeitslagern; der bereits 1936 verstorbene Lu Xun wurde hingegen zum revolutionären Romantiker uminterpretiert, obwohl er den Parteistaat Maos sicher nicht gutgeheißen hätte (S. 204). Mitter stellt die Kulturrevolution als Endpunkt der dunklen Seiten der 4. Mai-Bewegung dar. Gleichzeitig versteht Mitter die Kulturrevolution aber auch als Ausnahmeereignis des 20. Jahrhunderts, das sich auf keine rationalen Ursprünge zurückverfolgen lasse. Er folgt dabei der heute üblichen Interpretation dieses Jahrzehnts und erklärt Maos persönliche Machtkrise und seine Faszination von der Jugend sowie eine allgemeinen Krise des „revolutionären Fiebers“ in den 1960er-Jahren zum Auslöser des kulturrevolutionären Chaos. Als außenpolitischer Faktor kam der Einfluss des Kalten Krieges hinzu, der Anfang der 1960er-Jahre zu einer extremen internationalen Isolation Chinas geführt hatte (S. 218).
Am Ende der Kulturrevolution stand 1976 Maos Tod. Mit den Reformen Deng Xiaopings wurde 1978 eine „neue Ära“ eingeleitet, die ihren Höhepunkt in den Studentenprotesten von 1989 erreichte. Mitter findet in der Studentenbewegung der 1980er-Jahre Analogien zur 4. Mai-Periode: Im Zentrum stand 1919 wie 1989 die studentische Jugend; die 1980er-Jahre waren - wie zuvor die 1920er-Jahre - von einer kulturellen Orientierung am Westen, einem neuen Alltagsleben sowie neuen literarischen Formen und dem Bemühen um wirtschaftliche Modernisierung geprägt (S. 252). Schließlich folgte (ebenso wie Anfang der 1930er-Jahre) zu Beginn der 1990er-Jahre die Wende zur politischen Orthodoxie. Nach ihrer gewaltsamen Unterdrückung des „bourgeoisen Liberalismus“ 1989 auf dem Tian’anmen-Platz in Beijing propagierte die KPCh umso energischer ihre eigene Definition von Demokratie, basierend auf den Vier Grundprinzipien (Sozialismus, Führung der KP, marxistisch-leninistisch-maoistisches Denken und demokratische Diktatur des Volkes).
Die wichtigsten Veränderungen in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgten außenpolitisch. So schildert Mitter, wie China seit den 1990er-Jahren systematisch seine Rückkehr in die Weltgesellschaft betrieb. Die Tatsache, dass 1995 in Beijing eine Internationale Frauenkonferenz der UNO stattfand und China 2001 die Zusage für die Olympischen Sommerspiele von 2008 erhielt, belegen den Erfolg dieser Strategie. Gleichzeitig führt Mitter aber auch Beispiele für den offiziell wie im Volk ungebrochen starken Nationalismus an wie etwa die intensiv gepflegte Erinnerungskultur des anti-japanischen Krieges (Nanjing-Massaker), den Konfuzius-Kult oder auch den erneut kritischen Umgang mit der westlichen Orientierung vieler Intellektueller der 1980er-Jahre (S. 303f.). Ebenso stößt er in der aktuellen Geschichte Chinas weiterhin auf Spuren der 4. Mai-Tradition - wie etwa bei der Glorifizierung moderner Wissenschaft (Drei-Schluchten-Stauprojekt) oder bei der grundsätzlichen Bereitschaft der Chinesen, auf ihrer Suche nach einer eigenen Moderne mit verschiedenen Modellen zu experimentieren (S. 314). Folglich endet Mitters „Bitter Revolution“ in der Hoffnung, dass China endlich die Phase des Kampfes mit der modernen Welt hinter sich lassen werde.
Rana Mitter schließt mit seiner Interpretation des 20. Jahrhunderts an Jonathan Spence und sein „Gate of Heavenly Peace“ an, ein Buch, das 1982 die Epoche aus der Perspektive der Revolution beschrieben hat. Im Gegensatz zu Spence verlangt er vom Leser nicht nur viel Grundwissen über die neuere chinesische Geschichte, sondern schränkt seine Perspektive räumlich und gesellschaftlich stark ein. So schreibt Mitter seine Geschichte des 20. Jahrhunderts ganz ohne Chinas Bauern, obwohl diese mehr als zwei Drittel der Bevölkerung stellen und für die Ausbildung des chinesischen Kommunismus eine ausschlaggebende Rolle spielten. Aus seiner Sicht konzentriert sich Chinas Kampf um die Moderne auf die städtischen Metropolen. Mitters Buch ist ganz im Trend der Konzentration auf die kulturgeschichtliche Perspektive geschrieben, zeigt aber dabei gerade auch die Gefahr der Unvollständigkeit und Beschränktheit dieser Sichtweise auf.
Anmerkung:
1 Mitter, Rana, The Manchurian Myth. Nationalism, Resistance, and Collaboration in Modern China, Berkeley 2000.