M. Seckelmann: Industrialisierung, Internationalisierung u. Patentrecht

Cover
Title
Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871-1914.


Author(s)
Seckelmann, Margrit
Series
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 2 "Recht in der Industriellen Revolution"
Published
Frankfurt 2006: Vittorio Klostermann
Extent
527 S.
Price
€ 89,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Isabella Löhr, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Das Patentrecht ist in den letzten Jahren zunehmend ein Gegenstand geworden, der in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird. Der Streit um das Embryonenschutzgesetz, die Patentierung von genetischem und tierischem Material, die Auswirkungen der EU-Biopatentrichtlinien auf die nationalen Gesetzgebungen und vor allem der von US-amerikanischen Pharmafirmen geleitete Protest gegen Herstellung und Vertrieb von Generika in Ländern der Dritten Welt sind nur wenige Beispiele, die zeigen, wie sehr das Patentrecht derzeit Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen über grundlegende ethische Probleme und Fragen sozialer Verteilungsgerechtigkeit ist.

Inmitten dieser aktuellen Auseinandersetzungen ist jüngst die Dissertation von Margrit Seckelmann über Entstehung und Entwicklung des Patentrechtes im Deutschen Reich erschienen. Die Arbeit thematisiert die Vorgeschichte des ersten deutschen Patentgesetzes von 1877, seinen rechtspraktischen Werdegang, seine Institutionalisierung in Form des Kaiserlichen Patentamtes und die Reformdebatten vor 1914. Entgegen einer Vielzahl rechtshistorischer Studien, die eine Geschichte der Gesetzgebung und -implementierung vorwiegend rechtssystematisch angehen, profitiert diese Arbeit davon, dass ihre Autorin sowohl Jurist/innen als auch Historiker/innen ist. Denn die Entstehung und Fortentwicklung des Patentgesetzes wird in eine komplexe Geschichte des Kaiserreichs eingebettet, die sich auseinandersetzt mit den Auswirkungen der Zweiten Industriellen Revolution auf die Wirtschaftsstruktur, dem wirtschaftlichen Wachstum der Chemie- und Elektroindustrie, mit den Einflüssen der industriellen Verbände auf die wirtschaftspolitische Steuerung, der Ausbildung eines Binnenmarktes, seine Integration in den internationalen Handel und mit der Diskussion um nationale Marktabschottung oder internationale Öffnung seit den späten 1870er-Jahren. Diese Vielzahl an Themen wird integriert über das Patentgesetz, seine Kodifikation, Implementierung und rechtspraktische Weiterentwicklung, indem es sehr überzeugend als Schnittstelle von Wirtschaft, Technik, Recht und Rechtsstaatlichkeit im Kaiserreich vorgestellt wird.

Nach dem ersten Kapitel, das rechtsvergleichend den Gewerbe- und Patentschutz bis zur Reichsgründung beleuchtet, folgt im zweiten Kapitel die Kodifikation des Reichspatentgesetzes. Das Gesetz wird als Schlussstein einer seit Beginn des 19. Jahrhunderts schwelenden Diskussion beschrieben, ob technischer Fortschritt der Gesellschaft gehört, oder ob es ein staatliches Schutzbedürfnis Einzelner gegen Imitation gebe, das mittelfristig Innovation und technischen Fortschritt und damit die Gesamtgesellschaft fördern würde. Trotz starker Kritik kam das Gesetz letztlich zustande, weil die Weltausstellungen in Wien 1873 und in Philadelphia 1876 sowie die Eingliederung der Industrieregion Elsass-Lothringen in das Reich zur Einsicht führten, dass ein grenzüberschreitender Handel und die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Güter auf einem nationalisierten, rechtlich regulierten Markt aufbauen müssten, der der Industrie ausreichend Anreize bietet, in Forschung und Technik zu investieren und so für Innovation zu sorgen.

Entsprechend widmet sich das dritte Kapitel dem „Umgestaltungsprozess von einer Gesellschaft, die auf nationalistische Marktabschottung und auf Firmengeheimnisse baute, zu einer Wissensgesellschaft“ (S. 181), in der Wissen rechtlich geschützt wurde, damit seine Inhaber es öffentlich zugänglich machten. Es wird gezeigt, wie das Gesetz auf gesellschaftliche Selbststeuerung setzte, indem es Verbände, Expertennetzwerke, Juristen und Politiker beispielsweise in die Streitschlichtung und in die Debatte um die internationale Öffnung und Rechtsharmonisierung einband. Ermöglicht wurde diese gesellschaftliche Steuerung durch eine bewusst offene Konzeption des Gesetzes, das die konkrete Ausfüllung der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft überließ. Auf diesem Weg sollte Vertrauen in die Stabilität des neuen Rechtsinstrumentes und damit Erwartungssicherheit geschaffen werden, um die Industrie zu mehr Investitionen in die Forschung zu ermuntern.

Das vierte Kapitel widmet sich dem Kaiserlichen Patentamt als zentralem Ort, an dem Unternehmer, Juristen, Techniker und Gesetzgeber miteinander interagierten. Es wird gezeigt, wie das Kaiserliche Patentamt sich von einer anfänglichen Honoratiorenbehörde auf Drängen der Industrie in eine bürokratische Verwaltung verwandelte, die die rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Fragen bei der Anmeldung und Verwaltung von Patenten professionell bearbeitete und Interessenkonflikte zwischen Patentanmeldern und selbst aus der Industrie stammenden Patentprüfern ausschließen sollte.

Das fünfte Kapitel thematisiert schließlich den Einzug sozialer Fragen in das Patentrecht in Form des Streites um den Rechtschutz des ‚eigentlichen’ Erfinders, nämlich des angestellten Erfinders. Da das Patentrecht auf dem Anmelderprinzip aufbaute, sprach es das Ausschlussrecht dem ersten Anmelder zu, der in der Regel das jeweilige Unternehmen als juristische Person und nicht der angestellte Erfinder war. So wurden ab den 1890er-Jahren die Einführung des Erfinderprinzips diskutiert und damit die Zurückhaltung des Gesetzgebers gelockert, der bis dahin die Regelung von Zugang und Verteilung der Rechte innerhalb der Unternehmen der Industrie selbst überlassen hatte.

Die besondere Leistung der Studie liegt darin, dass sie die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Akteure, ihre Motive, auf widerstreitende Interessenslagen und auf die bisweilen schwierigen Aushandlungsprozesse richtet, wenn es um das Gesetz selbst oder seine rechtspraktische Fortbildung geht. Auf diese Weise zeichnet die Autorin ein lebendiges Bild von der anfänglichen Umstrittenheit, ob ein solches Patentgesetz überhaupt wünschenswert wäre und von den in letzter Instanz sehr pragmatischen Gründen für seine Einführung. Nach der Rechtskodifizierung drehten die Kontroversen sich um die Schwierigkeiten und Etappen in der Transformation des Kaiserlichen Patentamtes, um Kartellierungstendenzen durch Streitschlichtungsverfahren zwischen den Unternehmen, um die Debatte über nationale Marktabschottung oder internationaler Rechtsangleichung und um den 1914 abgebrochenen Streit zwischen Erfinderrecht und Anmelderprinzip.

Dieses Vorgehen bringt wertvolle Einsichten. Denn auf diese Weise führt die Autorin anschaulich vor, dass der Weg zu einem nationalen Patentrecht von 1877, seine weitere Ausgestaltung und der deutsche Beitritt zur internationalen Union zum Schutz von Gewerbe- und Patentrechten 1903 nicht gradlinig verliefen. Statt dessen entsteht das Bild eines wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrumentes, bei dem zwar Einigkeit herrscht, dass es durch Marktabschottung die nationale Industrie stärken, sie zu einer offenen Wissensstruktur umbauen und auf diese Weise international wettbewerbsfähig machen soll, bei dem aber zugleich die Frage nach der konkreten Ausgestaltung und dem Vorgehen kontrovers bleibt. Wesentlich ist, dass das Patentgesetz nicht die Wahl zwischen nationaler Abschottung oder Freihandel implizierte, sondern der Versuch war, die Auswirkungen des internationalen Handels für die deutsche Industrie steuerbar zu machen mit einer Gesetzgebung, die den Akteuren alle Handlungsoptionen offen hielt. So zeigt Seckelmann sehr schön die Gleichzeitigkeit von Nationalisierung und Internationalisierung der Märkte als zwei komplementäre Ströme, auf die das Patentgesetz progressiv reagierte, indem es eine rechtliche Rahmenordnung vorgab, deren konkrete Ausgestaltung und damit auch die Frage nach dem Grad der internationalen Öffnung in wesentlichen Teilen den Akteuren in Wirtschaft und Rechtspraxis überlassen blieb.

Diesem sehr spannenden Buch, das sich über Personen-, Sach- und Ortsregister gut erschließen lässt, ist eine breite Rezeption vor allem außerhalb der Rechtsgeschichte zu wünschen, die die Vielzahl lohnenswerter Anregungen für weitere Forschungen aufnimmt und die es auch als einen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten über Zweck und Reichweite von Patentrechten fruchtbar macht.

Editors Information
Published on
30.11.2006
Contributor
Edited by
Cooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review