A. G. Frank: Orientierung im Weltsystem

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Title
Orientierung im Weltsystem. Von der Neuen Welt zum Reich der Mitte


Author(s)
Gunder Frank, Andre
Editor(s)
Hödl, Gerald
Published
Extent
160 S.
Price
€ 11,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Hans-Heinrich Nolte, Verein für Geschichte des Weltsystems, Barsinghausen

Nur wenige Wissenschaftler haben zweimal in ihrem Leben intellektuell Karriere gemacht, wenn man darunter versteht, das man ein Buch schreibt, das weltweit gelesen wird – Frank gehört dazu: sowohl „Capitalism and Underdevelopment in Latin-America“ (New York 1967) wie „Re-Orient. Global Economy in the Asian Age“ (Berkeley 1998) gingen um die Welt und wurden in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt sowie mit Preisen bedacht. 1968 erschien „Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika“ in deutscher Übersetzung in Frankfurt; 1966 der Aufsatz „The Development of Underdevelopment“, der sofort ins Spanische und 1969 ins Deutsche übersetzt wurde. Mit der Frage: „Was bleibt von der Entwicklung der Unterentwicklung?“ hat das österreichische Journal für Entwicklungspolitik Frank 2006 eine eigene Ausgabe gewidmet.1 „Re-Orient“ wurde dagegen (bisher) nicht ins Deutsche übersetzt.

Andre Gunder Frank hat bei aller intellektueller Bedeutung übrigens nie akademische Karriere gemacht, fand nirgendwo eine Dauerstelle und lebte bei seinem Tod 2005 in Luxemburg – ein heimatloser Deutscher, der 1933 mit seinem Vater, dem pazifistischen Schriftsteller Leonhard Frank, in die USA emigriert war, welche jedoch 1965-1975 ein Einreiseverbot gegen ihn verhängten. Dass Frank nicht Lehrstuhlinhaber wurde, lag also nicht an seinen Werken und übrigens auch nicht an etwa mangelnder didaktischer Begabung – er konnte riesige Gremien faszinieren wie auf dem Kongress von Historia a Debate in Santiago di Compostela noch im Juli jenes Jahres 2005. 2

Der vorliegende Band bietet keine Übersetzung von Re-Orient 3, sondern eine Sammlung von einem großen und drei kleinen Aufsätzen – „Geschichtswissenschaft und Sozialtheorie 'Re-Orientieren'“ aus der Zeitschrift für Weltgeschichte 5.1 (2004), „Papiertiger und Feuerdrache“ aus der Zeitschrift Wildcat (Sondernummer zum Irak-Krieg März 2003) sowie zwei Internetsites. In dem ersten Aufsatz skizziert Frank kurz die These seines Buches „Re-Orient“, dass der Kapitalismus eine Funktion der Weltgeschichte und besonders der asiatischen Entwicklung war. Die „Eine Welt“ umfasste früh den Großkontinent, und sein Zentrum war China, das Fertigwaren in alle Welt exportierte. Die Europäer bauten zwar eine begriffliche und historische Welt um den „europäischen Sonderweg“, die Unterschiede zwischen Europa und Ostasien entsprachen jedoch Interaktionen zwischen den verschiedenen Großregionen, und Ostasien war lange führend. Etwa ab 1800 beendete der „Aufstieg des Westens“ diese Führung, da der aber schon nach zwei Jahrhunderten wieder vorbei ist, kehrt die Welt zu den alten Verhältnissen zurück. Die wissenschaftstheoretische Schlussfolgerung aus dieser globalen Version der „Einen Welt“ ist, dass unsere Begriffe insgesamt neu erarbeitet und gegenüber den alten eurozentrischen eben re-orientiert werden müssen.

In dem folgenden Aufsatz über das Scheitern der Sowjetunion und Osteuropas schreibt Frank (2002), dass es eigentlich trotz ungünstiger Bedingungen wie dem CoCom-Embargo bis in die 1970er Jahre so aussah, als ob die sozialistischen Länder aufholten. In den 1980er Jahren zeigte sich aber durch die Verschuldung Osteuropas im Westen und die Unfähigkeit, „auf den Technologie-Zug aufzuspringen“ (S. 76), dass die sozialistischen Ökonomien in der „krisenbedingt verschärften Konkurrenz innerhalb der Weltwirtschaft“ (S. 79) nicht bestehen konnten. Das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, dass das Weltsystem kennzeichnet, wurde bestätigt.

„Papiertiger und Feuerdrache“ (2003) geht von dem Wanderungskonzept aus, das Frank 1998 vorgestellt hatte: das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft verschob sich zwar am Ende der Frühen Neuzeit von China nach Europa und im 20. Jahrhundert über den Atlantik von Europa in die USA, kehrt nun aber über den Pazifik nach Ostasien zurück. Das hat auch Folgen für die hegemoniale Position der USA mit ihren drei Säulen $, Militär und Ideologie. Die Dollar-Säule bröckelt, da die USA kontinuierlich und nicht zuletzt bei China Schulden machen. Die Folgen führt Frank in dem letzten Beitrag aus: „Uncle Sam, ohne Kleider, auf dem Parademarsch rund um China und die Welt“ (2005). Er geht davon aus, dass die USA dadurch ihre weltweiten Schulden verringern, dass sie die Austauschraten des $ sinken lassen. Die innere Verschuldung der Amerikaner über Kreditkarten und Hypothekenkredite berechnet Frank mit fast 100% des Brutto-Inlands-Produkts; und die Staatsschulden so hoch, dass die Gesamtverschuldung der USA bei 37 Billionen $ oder dem Vierfachen des Netto-Inlands-Produkts läge, die Sparrate jedoch nahe Null. Sobald das Vertrauen in den $ durch die konstante Überdehnung der Mittel an einer Stelle reißt, ist der Crash nahe: „Wenn der Immobilienmarkt angesichts der von Dr. Greenspan verordneten aktuellen und künftigen Zinssteigerungen ebenfalls einbrechen sollte, würde dies nicht nur die Häuserpreise in den Keller treiben, sondern sich in einem Dominoeffekt auch auf die mehrfach refinanzierten Hypothekarkredite der Hauseigentümer, deren Kreditkarten- und andere Schulden, auf ihren Konsum, auf Firmengewinne und –schulden sowie schließlich auf die Investitionen auswirken.“ (S. 132). Veränderungen des weltwirtschaftlichen Systems wie die Einrichtung einer Ostasiatischen Wirtschafts-Gemeinschaft oder auch nur der Wechsel der Ölexporteure vom $ zum Euro als Clearingwährung würden den $ zusammenbrechen lassen.

Der Aufsatz Re-Orient fasst langjährige Forschungen zusammen. Auch wenn man dem Argument nicht folgt, dass die Welt schon vor der in den Opiumkriegen erzwungenen Einbeziehung Chinas als ein System analysiert werden muss 4, bleibt der Einwand überzeugend, dass Weltgeschichte nicht mit Kategorien arbeiten kann, die an europäischen Beispielen entwickelt wurden. Eine „globale Kontextualisierung des europäischen Mittelalters“ 5 ist genauso gefordert wie eine der Antike oder der Frühen Neuzeit; Europa muss, weltgeschichtlich gesehen, provinzialisiert werden 6 – zu dieser Einsicht hat Frank mit seinem Buch von 1998 international beigetragen, und die 2004 publizierte Übersetzung seines Aufsatzes “Re-Orientieren“ macht die epistemologischen Folgen gut deutlich.

Die Aufsätze zur aktuellen Lage Osteuropas und zum amerikanisch-chinesischen Verhältnis sind schnell für das Internet geschrieben (ihre Informationen stammen überwiegend aus den großen englischsprachigen Wirtschaftszeitungen wie Economist und Financial Times). Weder trifft z.B. das Argument großer Verschuldung beim Westen für die UdSSR zu, noch erklärt es etwas, wenn man Fortdauer oder gar Erweiterung der technologischen Lücke zum Grund für das Scheitern des Monopolsozialismus erklärt – warum ließ die sowjetische Führung die Lücke nicht zuarbeiten wie in der Militärtechnologie? Die Kapazität des Autors, aus relativ kurzen Notizen Schlaglichter zu entwickeln und Krisen vorauszusehen, ist aber beeindruckend – wer viel Geld in den amerikanischen Immobilienmarkt gesteckt hat, hätte besser vorher Frank gelesen. Ob China sich in einen und sei es ökonomischen Konflikt mit den USA ziehen lässt, wird man allerdings offen lassen müssen – falls der wichtigste Außenhandelspartner bankrott gehen würde, würde auch die chinesische Wirtschaft Schaden nehmen.

Insgesamt ein spannendes und wichtiges kleines Buch.

Anmerkungen:
1 Journal für Entwicklungspolitik 22(2006)1, hrsg. vom Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik an den österreichischen Universitäten, Mandelbaum-Verlag. Dort auch eine Bibliographie der Publikationen Franks.
2 Nachrufe Komlosy, Andrea; Hofbauer, Hannes in: Sozial-Geschichte 20(2005)3, S. 134 – 139; Hödl, Gerald in: Zeitschrift für Weltgeschichte 7(2006)1, S. 9 – 14, ebd. S. 125 – 127 Bericht über den Kongress.
3 Dies Missverständnis in der Übersetzung von Bayly, Christopher A., Die Geburt der modernen Welt, Frankfurt 2006– sie führt den Sammelband von 2005, der beim Schreiben des Buchs 2004 selbstverständlich nicht vorgelegen hat, in der Bibliographie auf. Bayly bezieht sich S. 78 jedoch auf Franks 1998 erschienenes Buch, das in der Bibliographie der Übersetzung nicht aufgeführt ist.
4 Vgl. Nolte, Hans-Heinrich, Weltgeschichte. Imperien, Religionen und Systeme, Wien 2005, S. 181 f.
5 Ertl, Thomas, Mediävistik und Chinahistorie. Vom Nutzen der chinesischen Geschichte für die Deutung des europäischen Mittelalters, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 7(2006)1, S. 9-34, hier S. 33.
6 Chakrabarty, Dipesh, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, deutsch in: Conrad, Sebastian; Randeira, Shalini(Hgg.), Jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt 2002, S. 283 – 312.

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02.11.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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