J. Wischmeyer u.a. (Hrsg.): Transnationale Bildungsräume

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Title
Transnationale Bildungsräume. Wissenstransfers im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion


Editor(s)
Wischmeyer, Johannes; Möller, Esther
Series
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz 96
Published
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
195 S.
Price
€ 49,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michael Werner, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Max Weber sah in der Veränderlichkeit des Begriffs- und Methodenapparates ein Spezifikum der historischen Wissenschaften. Dieses Paradigma bestätigt die heutige Geschichtswissenschaft immer wieder aufs Neue. Eine breite Methodenvielfalt, eine in ihrer Dynamik sich beschleunigende Abfolge von erkenntnistheoretischen Perspektivwechseln („turns“) und die Verflechtung methodischer Zugänge prägen die geschichtswissenschaftliche Forschungspraxis mehr denn je. Um die Tragfähigkeit und das Innovationspotential neuer Begriffe und Konzepte wird dabei nicht selten in Großdiskussionen gerungen, doch letztlich ist es die Kärrnerarbeit an und mit den Quellen, an der sich die Anwendbarkeit und das Erkenntnispotential von Forschungsprogrammatiken entscheidet.

Mitten in einem solchen Erkenntnisprozess steht nun auch der von Ester Möller und Johannes Wischmeyer herausgegebene Sammelband. Die hier zusammengefassten Beiträge gehen auf einen Workshop des Bereichs „Raumbezogene Forschungen zur Geschichte Europas“ des Mainzer Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte zurück, in dessen Diskussionsmittelpunkt der Begriff der „Bildungsräume“ stand. Erweitert um den Begriff des „Transnationalen“ präsentieren die Herausgeber ein Forschungsprogramm, das nicht auf einen Fixpunkt hin ausgerichtet ist. Es umfasst vielmehr – wie es die Einleitungsüberschrift anzeigt – ein Koordinatensystem auf einem analytischen Schnittfeld, in dem sich die Historische Bildungsforschung und die in der Geschichtswissenschaft expandierenden Konzepte der Transnationalen Geschichte und der Raumforschung überlagern. Basieren diese Forschungsfelder selbst auf unterschiedlichen methodischen Ansätzen, so steht der Begriff der „Transnationalen Bildungsräume“ erst einmal für ein fast unentwirrbares methodisches Geflecht. Die Herausgeber geben diesem Geflecht aber eine operationalisierbare Struktur, indem sie ihm mit dem engeren Konzept des „Bildungsraums“ eine erkenntnisleitende Achse geben. Ausdrücklich beziehen sie sich dabei auf die systematische Konkretisierung dieses Konzepts durch Sylvia Kesper-Biermann (S. 7). Darauf aufbauend ist für die Herausgeber die Annahme grundlegend, dass „temporäre transnationale Bildungsräume“ existierten, „die in Form personeller Netzwerke, medialer Repräsentation und Rezeption, institutioneller Kooperation sowie durch die Schaffung oder Nutzung internationaler Foren konstituiert wurden“ (S. 8). Es geht ihnen also in ausdrücklicher Bezugnahme auf die Kulturtransferforschung um raumbezogene Praktiken und insbesondere die Offenlegung historischer Prozesse. Mit einer Zusammenfassung der Diskussionserträge entlang dreier Themenfelder (1. Bildungsorganisationen und -akteure; 2. Ideologie und Diskurse im Bildungssektor; 3. Raumbezogene Aspekte der Bildungsgeschichte) zeigen Möller und Wischmeyer in der Einleitung, welche Forschungsdesiderate sich durch die multiperspektivische Programmatik des Konzepts der „Transnationalen Bildungsräume“ auftun.

Die Ausführungen von Sylvia Kesper-Biermann über Bildungsräume im langen 19. Jahrhundert bilden den Auftakt und zugleich den Schlüsselbeitrag des Bandes. Ihre methodischen Überlegungen gehen unter anderem von den Frühe-Neuzeit-Forschungen über „Bildungslandschaften“ und dem geographischen Gebiet des deutschsprachigen Raums bzw. des Deutschen Reichs aus. Nach Kesper-Biermann bietet sich Deutschland aufgrund seiner föderalen Struktur für die Analyse von Transferprozessen im Bildungswesen und damit auch für die Erarbeitung von entsprechenden Analysekategorien besonders an. Diese Prämisse erweist sich als nachvollziehbar. Gleichwohl geht sie in ihrer Argumentation auch über den nationalen Rahmen hinaus, was die allgemeine Anwendbarkeit des Konzepts unterstreicht. Gekennzeichnet ist der Forschungsentwurf durch seine Breite, aber auch durch seine innere Strukturierung. Er erstreckt sich über Gebäude, Institutionen, geographische Einheiten und mentale Raumkonstruktionen und soll die Kommunikations-, Austausch- und Transferprozesse in den Blick nehmen. Das Augenmerk liegt auf der Wandelbarkeit und den Verschränkungen dieser Ebenen, auf den Akteuren, auf den Foren des Austauschs (wie Organisationen und Kongressen) und auf den Modifikationen und Anpassungen von Motiven und Zielen, wodurch Räume und Prozesse in Verbindung gebracht werden. Damit eröffnen sich zweifellos neue Fragehorizonte bzw. können neue Forschungsakzente gesetzt werden. Gleichwohl birgt diese Breite die Gefahr der Konturlosigkeit in sich. Kesper-Biermann fängt diese mit dem Insistieren auf die genaue Festlegung der Untersuchungsebenen auf (S. 25). Diese Forderung ist ernst zu nehmen, denn erst wenn das geschieht, kann das Konzept wirklich umgesetzt werden, wobei es dann die Möglichkeit eröffnet, ein weites Forschungsfeld mit einer Vielzahl von unterschiedlichen, aber gleichwohl aufeinander bezogenen Ansätzen und spezifischen Perspektiven zu durchdringen.1

Den Ertrag, den das Konzept „Transnationale Bildungsräume“ erwarten lässt, machen dann gleich die ersten beiden inhaltlichen Beiträge deutlich. Jana Tschurenev beschäftigt sich mit dem Modell des wechselseitigen Unterrichts in Indien und Großbritannien. Konzentriert auf Akteure, insbesondere den schottischen Pastor Andrew Bell, werden nicht nur die Wege des Bildungstransfers um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert deutlich; anschaulich wird auch die Prozesshaftigkeit der Herausbildung von Bildungsprogrammen und -systemen. Umrahmt durch die Darstellung der Voraussetzungen des Transfers und die Feststellung des unterschiedlichen Maßes der Implementierung neuer Ideen in bestehende Bildungsprogramme, wird ein Bildungsraum sichtbar, der sich nicht durch Einheitlichkeit des Bildungssystems auszeichnete, sondern durch die Wirksamkeit von Interaktions- und Transferprozessen konstituiert wurde. In einer ähnlichen Zeit, aber einem anderen Raum bewegt sich Bettina Severin-Barboutie mit ihrer Frage nach Raumkonfigurationen am Beispiel der Hochschulreformdebatte im nur kurzlebigen, von Napoleon gegründeten Großherzogtum Berg. Es ist die Analyse der Bedingungen des Scheiterns der Reform, in denen hier der Erkenntniswert liegt und der durch die Verflechtung von zeitlichen und räumlichen Forschungsdimensionen entsteht. Indem Severin-Barboutie die Ebenen konkreter institutioneller Orte (Universitäten) mit den Kommunikationsräumen (lokal, regional, gesamtstaatlich) verknüpft, wird auf anregende Weise einerseits die Polydimensionalität von Bildungsräumen sichtbar, anderseits der Blick auf die Dynamiken und die Fluidität von Raumzuständen gelenkt.

Mit dem Aufsatz von Johannes Wischmeyer zur protestantischen Vermittlungstheologie als Bildungsraum zwischen Deutschland und den USA rückt der Band in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Anhand von Theologen und deren Wahrnehmung von Strukturen und Praktiken der akademischen Theologie im Kontext des Austauschs über institutionelle Bildungsstrukturen erfasst Wischmeyer einen durch Expertenkommunikation umgrenzten sozialen Raum, der durch „Aneignung und Abwehr“ von Wissen gekennzeichnet war. Zwar blieben die institutionellen Strukturen in beiden Ländern weitgehend von diesem Wissenstransfer unberührt. Gleichwohl bestärkte er einen ähnlich gelagerten Innovations- und Professionalisierungsprozess in der protestantisch-theologischen Hochschulbildung auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Gegensatz hierzu zeigt Mustaf Gencer, unter welchen Bedingungen deutsches Bildungswissen in das türkische Schulwesen des spätosmanischen Reichs eindrang. Als wichtige Akteure des Transfers beschreibt Gencer nicht nur Bildungspolitiker und -experten im engeren Sinne, sondern auch andere Intellektuelle und Publizisten. Damit zeigt er neben dem geographischen Raum des Transfers auch das weite kommunikative Netz dieses Bildungsraums auf. Der anschließende Aufsatz von Klaus Dittrich stellt dann die deutsche Berichterstattung über Schul- und Bildungsfragen auf den Weltausstellungen als interessante Quellengattung vor.

Den Lehrern wenden sich die letzten beiden Beiträge zu. Francesca Marin beschäftigt sich mit der Debatte um die Ausbildung italienischer Gymnasiallehrer von der Staatsgründung bis ins frühe 20. Jahrhundert. Bei der Frage nach der richtigen Ausbildung der Gymnasiallehrer arbeiteten sich Bildungspolitiker und Hochschulvertreter auch am „deutschen Modell“ ab, ohne dass es zu einer Adaption kam. Dafür waren weniger rationale Gründe, als vielmehr die Strukturen des italienischen Bildungssystems, nationalistische Einstellungen und akademischer Dünkel verantwortlich. Esther Müller beschließt den Band mit einem Beitrag zu den französischen Schulen im Libanon. Sie stellt mit den Lehrern dieser Schulen nochmals explizit die Akteure in Bildungsräumen in den Blickpunkt und untersucht deren Herkunft sowie die Motive und Perspektiven ihrer Tätigkeit. Damit verbindet sie das Anliegen, bei der „Untersuchung von Akteuren des Kulturtransfers […], die einzelnen Analysekategorien noch spezifischer auszuformulieren“ (S. 187), und hebt damit wieder ein zentrales Kriterium für die Anwendbarkeit des Konzepts „Transnationale Bildungsräume“ hervor. Dadurch wird nochmals unterstrichen, wie groß der künftige Erkenntnisgewinn dieses Konzepts bei einer pointierten Verknüpfung von analytischer Breite und Konzentration der einzelnen Studien sein kann. Mit den thematischen Beiträgen dieses Bandes ist dazu ein erfolgversprechender und weitere Forschungen anregender Schritt getan.

Anmerkung:
1 Vgl. die ähnliche Argumentation von Martschukat und Stieglitz zum Konzept der „Männlichkeitengeschichte“: Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008, insb. S. 51, 74.

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Published on
07.04.2014
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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