E. Möller: Orte der Zivilisierungsmission

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Title
Orte der Zivilisierungsmission. Französische Schulen im Libanon 1909–1943


Author(s)
Möller, Esther
Series
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 233
Published
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
448 S.
Price
€ 79,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Valeska Huber, Deutsches Historisches Institut London

Was sind die Orte der Zivilisierungsmission? Zum Beispiel der Pausenhof. Wer dort an den französischen Schulen Beiruts in den 1920er-Jahren beim Arabischsprechen ertappt wurde, musste das aus einem langen Holzstab bestehende signal während der Pause so lange tragen, bis er es an einen anderen Schüler weitergeben konnte, dem ein arabisches Wort über die Lippen gekommen war (S. 187–189). Dass es Esther Möller in ihrem Buch nie nur um Diskurse über die Zivilisierungsmission, sondern immer auch um Praktiken geht, macht die Beschreibung des signals deutlich. Es lässt sich auch an vielen weiteren Beispielen veranschaulichen, die sich durch das Buch ziehen. Wir nehmen am Sportunterricht und an Elternabenden teil, begleiten libanesische Schüler 1931 zur Kolonialausstellung nach Paris, lernen über die Vereinheitlichung von Abschlüssen und Prüfungen und verfolgen Konflikte um tricolore, Marseillaise und Feiertage. Wir werfen Blicke in Geschichtsbücher und Schulhefte, sitzen im Publikum von Schulaufführungen und folgen den Schülern auf dem Weg an französische Universitäten oder in die libanesische Politik.

Um der französischen Zivilisierungsmission im Libanon auf die Spur zu kommen, entwirft Esther Möller ein feinziseliertes Bild der Beiruter Schullandschaft in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie vergleicht unterschiedliche französische Schulen, die unter der Trägerschaft katholischer Orden, der mission laïque oder der alliance israélite standen. Durch den Einblick in die Alltagspraktiken der Schulen erscheint die französische Zivilisierungsmission als vielgestaltiger Prozess, der von politischer Dominanz, aber auch von Konkurrenz und Aneignung geprägt sein konnte. Zu diesem Zweck wird eine eindrucksvolle Quellendichte ausgebreitet, mit einer Spannweite von offiziellen Dokumenten über Schularchive und Nachlässe von Absolventenvereinigungen zu Interviews und privaten Memorabilia.

Nach einer Einleitung führt das erste Kapitel den Leser an das Thema der Zivilisierungsmission „vor Ort“ heran und zeigt auf induktive Weise, welche Lücken durch die vorliegende Arbeit geschlossen werden können. Danach folgen chronologische Kapitel zu den Schulen im Libanon vor dem Ersten Weltkrieg, während der Mandatszeit und zu Beginn der Unabhängigkeit. Es werden auch thematische Schneisen geschlagen. So widmet sich ein besonders überzeugendes Kapitel der Sprachpolitik unter französischer Herrschaft, einem Herzstück des kolonialen Selbstverständnisses Frankreichs. Statt nur den Siegeszug des Französischen mithilfe von Praktiken wie dem signal zu beschreiben, räumt Esther Möller dem Arabischen ebenso viel Platz ein und zeigt, dass manche Eltern angemessenen Arabischunterricht als Begründung für ihre Schulwahl ins Feld führen konnten. An einem Beispiel wie dem Sprachunterricht wird so deutlich, wie sich die Schulen zwischen offizieller Politik, privater Trägerschaft und Ansprüchen der Klientel behaupten mussten. Trotz Standardisierungsversuchen, zum Beispiel im Prüfungswesen, betont Esther Möller neben der Konkurrenz zwischen verschiedenen Schulen zudem immer wieder den ‚improvisierten und polyphonen Charakter der Bildungspolitik’ (S. 163). Dieser wird zum Beispiel im Zusammenhang mit der religiösen Verortung der Schulen evident: parallel zur Betonung des Laizismus als vorherrschender Doktrin blieben zum Beispiel die katholischen Schulen „fester Bestandteil der Mandatspolitik“ (S. 222). In der Praxis erscheint der Laizismus als flexibles Konzept, das manchmal einfach die Öffnung von Institutionen für alle Religionsgruppen bedeuten konnte. Zum Ende des Buches wird nicht nur das Land in die Unabhängigkeit entlassen, sondern wir begleiten auch die Schüler auf ihrem weiteren Lebensweg.

Esther Möllers Monographie schließt an verschiedene lebendige Debatten der Nahostgeschichte an, ohne diese Verbindungen immer explizit zu machen. Da ist zum einen die florierende Stadtgeschichte des Nahen Ostens. Beiruts Bevölkerungswachstum und Modernisierung vor und während der Mandatszeit schlug sich auch im Bildungssektor nieder. Hier füllten neue Bildungsinstitutionen Lücken, die nicht nur der veränderten politischen Realität, sondern auch den Ansprüchen neuer Eliten geschuldet war. Wie sich diese Schulen im Stadtraum situierten und wie sich die Schülerschaft geographisch konstituierte, liegt nicht im unmittelbaren Blickfeld der Autorin. Manchmal wäre es hilfreich gewesen, den urbanen Raum etwas stärker zu konturieren, auch im Vergleich zu anderen Städten der Region wie Damaskus oder Jerusalem. Doch selbst wenn die Stadt- und Architekturgeschichte nicht im Mittelpunkt der Analyse steht, verdeutlicht auch die indirekte Perspektive Beiruts Charakter als Experimentierfeld und als Magnet für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. In den 1920er-Jahren wurde Beirut zu einem regelrechten Marktplatz verschiedener Schulen. Eliten trafen bewusste Entscheidungen, welche Schule ihren Kindern einen Vorteil im sozialen Aufstieg verschaffen konnte. Dieser Befund schließt an neuere Forschungen zu globalen Mittelschichten an. Während Städte wie Aleppo über eine viel homogenere Mittelschicht verfügten, war es gerade die Spaltung in verschiedene religiöse Gruppen, die Beiruts Eliten auszeichnete. Esther Möller gelingt es, die selbstbewusste Handlungsmacht der aufstrebenden Mittelschicht, aber auch ihre Fragmentierung mithilfe der Schulwahl zu beleuchten und so ein Soziogramm des Beiruter Bürgertums zu entwerfen. Die Schulen bildeten zudem Knotenpunkte in Netzwerken, die über den Libanon hinauswiesen. Viele Libanesen hatten Verbindungen zur Diaspora in der Levante, in Europa oder in Afrika. Auch institutionengeschichtlich waren Schulen der alliance israélite oder der Jesuiten mit Einrichtungen in anderen Regionen, zum Beispiel in Nordafrika verbunden. Verknüpfung und Vergleich bilden allerdings keinen zentralen Zugang des Buchs, sondern die Autorin entscheidet sich für die dichte Beschreibung der Schulen selbst. Mit diesem Ansatz wirft die Studie Fragen nach der Neuinterpretation der Mandatsregime im Nahen Osten auf. Allein in diesem Jahr erscheinen zwei neue Überblickswerke zur Thematik. Esther Möller zeigt, dass wir auch oder vielleicht gerade durch die Mikroperspektive Antworten auf Fragen nach der Reichweite politischer Durchdringung und Umgestaltung finden können.

Diese impliziten Verbindungen zu breiteren Debatten zeigen, dass das Buch zur Reflektion über die ideale Flughöhe der Analyse einlädt. Statt die Mikrostudie an größere Thesen anzuschließen, wird häufig ein Panorama an Vergleichsmöglichkeiten aufgezeigt, ohne diese weiter auszuführen. Während Esther Möller den Mikrokosmos Beirut lebendig werden lässt und ihn in die Ambivalenzen der französischen Zivilisierungsmission mit ihren zentralen Komponenten Religion/Laizismus und Sprache einbettet, wird das Buch für Historiker anderer Regionen dort besonders interessant, wo es über die Fallstudie hinausgeht und manchmal überraschende Vergleichsebenen einzieht, so zum Beispiel im Zusammenhang mit der Frauenbewegung, in der sich Libanesinnen an ägyptischen Feministinnen orientierten oder in Bezug auf Jugend- und Pfadfinderbewegungen, die sich in viele Untergruppierungen aufspalteten. Durch diese Betonung der inneren Fragmentierung und äußeren Vernetzung der Beiruter Eliten liefert uns die Analyse der französischen Schulen im Libanon auch über Beirut hinaus den Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Mandatszeit im Nahen Osten.

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Published on
11.06.2015
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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