Im Unterschied zum Sozialismus und Liberalismus ist der Konservatismus von der Geschichtswissenschaft bisher kaum auf seine internationale Dimension oder auf transnationale Kontakte seiner Vertreter befragt worden. Das liegt teilweise daran, dass er nicht zu Unrecht als eher pragmatisch, theoriefern, wandlungsfähig und entsprechend vielgestaltig angesehen wird. Regionale oder nationale Spezifika dessen, was es für Konservative zu bewahren gilt, spielen eine größere Rolle als bei den stärker universell ausgerichteten Zielen und Werten von Sozialismus und Liberalismus. Außerdem waren organisatorische Zusammenschlüsse von Konservativen häufig kurzlebig und institutionell fluide. Entsprechend unbekannt und unbeachtet sind sie auch in der Historiografie geblieben – ganz im Gegensatz zu den Internationalen der Sozialisten und Kommunisten oder zu einer liberalen Gruppe wie der Mont Pèlerin Society, über die wir nicht zuletzt durch die Studien von Philip Plickert und Matthias Schmelzer sehr gut unterrichtet sind.1
Die vermeintliche „Internationale der Konservativen“, die Johannes Großmanns Saarbrücker Dissertation den Titel gegeben hat, taucht denn auch in der Studie zunächst in Anführungszeichen und später eher als Forderung, Wunsch oder Zielvorstellung europäischer Konservativer auf, nicht als Beschreibung einer real existierenden umfassenden Organisation. Im Untertitel ist vorsichtiger und exakter von „privater Außenpolitik“ und „transnationalen Elitenzirkeln“ im Plural die Rede. Diese Einschränkung macht die Studie nicht weniger verdienstvoll. Weil es nicht „die“ konservative Internationale gab, die institutionengeschichtlich zu erforschen wäre, musste Großmann mehr als 30 Archive in acht Ländern durchkämmen (von Deutschland und Österreich über Spanien und Portugal bis nach Frankreich und Großbritannien), um aus zahlreichen Privatnachlässen und anderen verstreuten Beständen ein Gesamtbild sich teilweise überlappender Gesprächszirkel und mitunter bewusst unter Ausschluss der Öffentlichkeit operierender Netzwerke von Akademien, Instituten und Denkfabriken zu rekonstruieren. Was er bei seiner archivalischen Kärrnerarbeit herausgefunden und kenntnisreich in die größeren historischen Kontexte eingeordnet hat, stellt einen gewichtigen und innovativen Beitrag sowohl zur Geschichte des europäischen Konservatismus im 20. Jahrhundert als auch zu einer Internationalen Geschichte dar, die sich nicht mehr als „Gegenprogramm oder Alternative, sondern als Pendant und Ergänzung“ einer transnationalen Gesellschaftsgeschichte versteht (S. 25).
Mitunter droht der rote Faden der Argumentation im Gestrüpp von Personen, Institutionen und Akronymen verlorenzugehen (im Anhang sind rund 2.000 Registereinträge und knapp 300 Abkürzungen verzeichnet). Die Darstellung umfasst mehr als vier Jahrzehnte von der Mitte der 1940er- bis in die 1990er-Jahre. Sie erstreckt sich über fast alle Länder West-, Mittel- und Südeuropas, mit gelegentlichen Ausflügen nach Skandinavien und hinter den Eisernen Vorhang, wenn osteuropäische Exilgruppen in die Analyse einbezogen werden. Die enorme geografische und chronologische Spannbreite mutet dem Leser manchen Sprung in Raum und Zeit zu. Sie entschädigt ihn aber mit einer gesamteuropäischen Perspektive der longue durée, die in einer konzisen Schlussbetrachtung unter den Stichworten „europäische Integration“, „Kalter Krieg“ und „konservative Eliten“ zusammengefasst wird.
Großmann streicht die Konsistenz und Wirkmächtigkeit konservativer Europavorstellungen heraus, die als Lehre aus der Geschichte zerstörerische Nationalismen überwinden wollten, sich zugleich aber als Gegenmodell zum supranationalen Einigungsprojekt des Schuman-Plans verstanden. Einrichtungen wie das Centre Européen de Documentation et d’Information (CEDI) wandten sich, so Großmann, „gegen eine unreflektierte Übertragung des parlamentarisch-demokratischen Systems auf Europa“ und warnten vor der „Entstehung eines technokratischen Superstaats, der weder den christlichen Wurzeln noch der kulturellen Vielfalt der europäischen Völker“ gerecht werde (S. 556). Wesentlich getragen von alteuropäischen Adelsnetzwerken und der katholischen Kirche fand diese Europakonzeption sowohl im Spanien Francos als auch unter Frankreichs Gaullisten und deutschen Abendländlern zahleiche Anhänger. Mit ihrer Forderung nach einer vom Subsidiaritätsprinzip getragenen „Konföderation der Vaterländer“ (Otto von Habsburg) verweist sie auf eine ideengeschichtliche Alternative zum bundesstaatlichen Einigungsmodell, die auch unter den Vorzeichen der aktuellen europäischen Krisen beachtenswert erscheint.
Mit Blick auf den Kontext des Kalten Krieges betont Großmann im Einklang mit der neueren Forschung die Bedeutung eines kämpferischen Antikommunismus, der bis ins zweite Drittel der 1950er-Jahre als wichtiges Bindemittel gewirkt habe.2 Er analysiert aber auch die nachlassenden Kohäsionskräfte dieser Form konservativer Identitätsbildung, die nicht zuletzt aufgrund von personellen und inhaltlichen Kontinuitäten zur antibolschewistischen Propaganda der Nationalsozialisten in Verruf geraten sei. Außerdem verlagerte sich die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion seit den 1960er-Jahren immer mehr in Gegenden außerhalb Europas, nach Lateinamerika oder Afrika. An die Stelle des äußeren Feindes trat zunehmend ein innerer Gegner: „die Herausforderung konservativer Wertvorstellungen durch gesellschaftliche Liberalisierung und sozialrevolutionäre Utopien oder die angebliche Bedrohung der freien Wirtschaftsordnung durch staatliche Eingriffe“ (S. 561).
Die Sorge vor den Übergriffen eines expansiven Wohlfahrts- und Interventionsstaates bildete eine wichtige Brücke, über die sich beträchtliche Teile der von Großmann untersuchten Konservativen im Verlauf der 1960er- und 1970er-Jahre liberalen Staats- und Gesellschaftskonzepten annäherten. Sie übernahmen sukzessive eine libertär imprägnierte Weltsicht und stellten christliche Grundsätze zugunsten utilitaristischer Überzeugungen hintan. Mit dieser Wendung sieht Großmann ein klares Bekenntnis zu Demokratie, parlamentarisch-politischem Wettstreit und Rechtstaatlichkeit einhergehen: Im Zentrum des neokonservativen Selbstverständnisses habe nun die „Forderung nach der Freiheit des Einzelnen in einer nach klaren normativen Vorgaben geordneten Gesellschaft und nach dem Schutz des Individuums vor dem gleichmacherischen Zugriff des Wohlfahrtsstaates“ gestanden (S. 436).
Indem Großmann die Anpassungsfähigkeit des europäischen Konservatismus, dessen Abkehr von antidemokratischen Positionen und die Öffnung zum Liberalismus samt Anerkennung von Rechtsstaatsprinzip, Pluralismus und Parteienwettstreit herausstreicht, setzt er andere Akzente als die frühere Forschung. Diese sei gerade mit Blick auf die deutsche Entwicklung oft bei der Beschreibung der Abendlandideologie stehengeblieben und habe Ausmaß wie Rasanz des konservativen Wandels unterschätzt.3 Großmann schreibt die Transformation vor allem dem intellektuellen Austausch deutscher Konservativer mit ihren westeuropäischen Nachbarn zu, ohne dies freilich im Einzelnen belegen zu können. Zugleich unterschätzt er andere Faktoren wie den generationellen Umbruch und die Prägung der nachrückenden 45er-Generation beispielsweise durch Studienaufenthalte in den USA.
Dieser Einwand kann Johannes Großmanns Leistung jedoch kaum schmälern. Er hat eine in ihrer geografischen wie chronologischen Reichweite wegweisende Studie vorgelegt. Sie bewegt sich methodisch wie inhaltlich durchweg auf dem neuesten Stand der Forschung, erschließt mit bewundernswerter Akribie bislang unbekanntes, teilweise entlegenes Quellenmaterial und hilft, die Ideenwelten des westeuropäischen Nachkriegskonservatismus neu zu vermessen.
Anmerkungen:
1 Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“, Stuttgart 2008; Matthias Schmelzer, Freiheit für Wechselkurse und Kapital. Die Ursprünge neoliberaler Währungspolitik und die Mont Pèlerin Society, Marburg 2010.
2 Für die Bundesrepublik Stefan Creuzberger / Dierk Hoffmann (Hrsg.), „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014 (rezensiert von Dominik Rigoll, in: H-Soz-Kult, 17.10.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22243> [08.05.2015]).
3 So etwa Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideengeschichte der 50er Jahre, München 1999; Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005.