Gregory Afinogenov untersucht in dieser überarbeiteten Fassung seiner Harvard-Dissertation das russische Wissen über China im 18. und 19. Jahrhundert. Dieses Wissen entstand vor allem aus Gelehrsamkeit und Spionage, wobei die Grenzen fließend und die Produzenten durchaus dieselben sein konnten. Mit dem Überblick über die China-Expertise Russlands und die teils abenteuerlichen Biografien seiner Träger schließt das Buch eine Lücke, die bislang erstaunlich groß in der russischen Ideen- und Wissenschaftsgeschichte klaffte. Doch eigentlich hat der Autor, inzwischen Assistant Professor an der Georgetown University, eine Analyse der sino-russischen Beziehungen durch das Prisma der Wissensgeschichte vorgelegt. Das Reich der Zaren, so die These, befand sich in einer, im Vergleich mit den westeuropäischen Staaten einzigartigen, privilegierten Position gegenüber dem Reich der Mitte. Über die lange gemeinsame Grenze fand seit dem späten 17. Jahrhundert nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein kultureller Austausch zwischen den beiden Imperien statt. Er machte Russland weitgehend unabhängig vom okzidentalen China-Wissen, ja zu einem Vermittler zwischen Westeuropa und Ostasien. In dieser Funktion sieht Afinogenov den im Untertitel etwas reißerisch beschworenen Weltmachtanspruch des Zarenreichs.
Anders als in Westeuropa war das russische China-Wissen lange Zeit ein rein pragmatisches, kein konzeptionell-theoretisches. Es entstand aus dem und für den alltäglichen Dienstgebrauch von Staatsdienern an der Grenze oder in der Moskauer und später Petersburger Verwaltung. Diese Experten besaßen in der Regel keine formale und schon gar keine akademische Bildung und verstanden auch nicht notwendig die Sprache des Nachbarimperiums. Dennoch waren gerade sie maßgeblich daran beteiligt, Informationen von russischen und zentralasiatischen Kaufleuten, von Diplomaten, Missionaren oder Sprachschülern zusammenzutragen. Dieses Gebrauchswissen unterhalb der veröffentlichten und wissenschaftlichen Ebene ist bislang so gut wie nicht untersucht worden – nicht zuletzt, weil es fragmentarisch und gewissermaßen im Rohformat vorliegt. Afinogenov breitet es mit großer Liebe zum Detail aus, und nicht immer behält der/die Leser/in den Überblick. Es ist trotzdem das große Verdienst dieser Studie, diese Kenntnisse und seine weniger bekannten Träger (wie beispielsweise den Übersetzer Alexei Leontjew) nicht nur aus den verschiedensten Archiven und Bibliotheken zusammengetragen, sondern auch systematisiert und analysiert zu haben.
Afinogenov benutzt zur Analyse ein Modell von Wissens-Regimen, das die Interaktion von Ideen, Institutionen und Personen erfasst. Zwar war dieses China-Wissen-Regime von politischen Entscheidungen abhängig beziehungsweise sollte helfen, diese zu treffen, gleichwohl war es schlichtweg zu vielfältig und zu unsystematisch als dass es geradlinig instrumentalisiert werden konnte. Oberhalb und teils auch außerhalb dieses pragmatischen Wissens gewann erst im 19. Jahrhundert die akademische Chinakunde auch im Zarenreich an Bedeutung, ohne freilich die pragmatische bürokratische Expertise verdrängen zu können.
Die elf Kapitel der Untersuchung sind in vier Teile gegliedert. Einem kurzen Überblick über die Wurzeln des russischen Chinainteresses folgt ein Abschnitt über bürokratisches Arkanwissen und einer über Spione und Grenzwächter. Das Buch schließt mit einer Sektion über die Etablierung der Sinologie in Russland. Die Darstellung folgt den sino-russischen Beziehungen von der frühen Neuzeit bis zum Zeitalter des Imperialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das mit der erzwungenen „Öffnung“ Chinas einsetzte. Die Perspektive ist in erster Linie die des Zarenreichs, was aber nicht an einem Desinteresse des Autors oder fehlenden Sprachkenntnissen liegt. Vielmehr war in dem Untersuchungszeitraum das russische Interesse an China stets größer als umgekehrt. Seit dem frühen 17. Jahrhundert trug Moskau Informationen über das sagenhaft reiche und mächtige Reich der Mitte zusammen. Es entstand, was Afinogenov im ersten Kapitel als ein hybrides Wissen analysiert: ein Konglomerat aus unterschiedlichen Quellen – Karten, Jesuitenberichten, Gesandtschaftserfahrungen, nomadischen Erzählungen. Gerade diese Hybridität des Wissens und insbesondere seine Entstehung in geografischer Nähe zu China macht es wiederum zu einem begehrten Gut im westlichen Ende Eurasiens. Zusammen mit heilkräftigem Rhabarber gelangten Informationen und Anekdoten aus China über den Landweg zu Gelehrten und Politikern, zum Geografen Jean-Baptist du Halde in Paris oder dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz in Hannover (Kapitel 2).
Mit den Reformen von Zar Peter I. begann eine neue Phase, der Wissensproduktion. Neu entstand – etwa in der Akademie der Wissenschaften – ein Bereich des öffentlichen Wissens, von dem das interne, systematisierte Wissen umso sorgfältiger abgegrenzt wurde. Ganz am Anfang von Peters Herrschaft stand der Friedensvertrag von Nertschinsk (1689), in dem sich Moskau und Peking auf ein Handelsabkommen und eine stabile Grenze einigten. Er bildete die Grundlage für dauerhafte Kontakte und die Entstehung einer Gruppe von landes- und sprachkundlichen China-Experten in der russischen Verwaltung, deren Arbeit Afinogenov bis in die verwendeten Unterrichtsmaterialen verfolgt und deren Einfluss auf die Publikationen bekannter Wissenschaftler wie Gerhard Friedrich Müller er nachweist (Kapitel 3 und 4).
Ohne Frage stellten die einträglichen Handelsbeziehungen mit China die wichtigste Konstante im russischen China-Interesse dar. Aber über Wirtschaftsspionage hinaus wurde auch landeskundliches Wissen produziert. Hierfür waren die Karawanen, mit denen russische Kaufleute im frühen 18. Jahrhundert nach Peking zogen, der wichtigste Ort. Im Unterschied zu Beamten oder Gelehrten in Russland besaßen die Teilnehmer der Karawanen – Kaufleute, Gesandte, Sekretäre, Ärzte – viel mehr Autonomie beziehungsweise mussten auf neue Situationen in China selbst reagieren. Neben ihrer Rolle als teilnehmende Beobachter wirkten diese China-Reisenden aber auch als Vermittler von Korrespondenzen oder Elementen materieller Kultur (Kapitel 5 und 6).
So groß Russlands Respekt vor der ostasiatischen Hegemonialmacht China war, so reichte diese doch nicht, um in Petersburg als ernsthafte Bedrohung zu gelten. So wenig wie Russland im Nordpazifikraum seine militärische Kraft ausspielen konnte, so wenig vermochte und wollte China dies in Europa. Doch begannen die beiden größten Imperien Eurasiens, die mittelasiatischen Khanate des ehemaligen mongolischen Weltreichs untereinander aufzuteilen. Spätestens als Petersburg in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Kollaps des Dsungaren-Khanats einen zentralasiatischen Bündnispartner an Peking verlor, gewann die militärische Spionage eine neue Qualität. Afinogenov spricht von einem Kalten Krieg, in dem es nicht mehr abstrakt um Wissensakkumulation ging, sondern um militärische Aufklärung und indirekte Einflussnahme in der zunehmend schmaler werdenden Frontier zwischen den beiden Imperien. Eine ähnliche Entwicklung nahm die Grenzregion in Ostsibirien. Die Erfolge lagen aber weiterhin mehr auf dem Gebiet der Wissenssammlung, ein richtiger Informationskrieg fand nicht statt (Kapitel 7 und 8).
Doch mit der „Entdeckung“ des Stillen Ozeans durch europäische Staaten veränderte sich auch Russlands Verhältnis zu China (Kapitel 9). Die bislang innerasiatische imperiale Konkurrenz zwischen Petersburg und Peking, die durch komplementäre Interessen stabilisiert worden war, wich einer zunehmend instabilen, multi-imperialen Gemengelage – also geopolitischer und ökonomischer Konkurrenz im Nordpazifik. Entsprechend verschoben sich die Interessen in Petersburg, wie das Beispiel der gescheiterten Gesandtschaft von Juri Golwokin (1805) zeigt, auf das China-Wissen in den konkurrierenden Großmächten. Dies beförderte nicht zuletzt die Etablierung einer akademischen Sinologie, zuerst in Kazan, mit einem wachsenden Einfluss auch auf Russlands Gesandtschaft in Peking (Kapitel 10). Afinogenov betont diesen Bruch gegenüber dem 18. Jahrhundert und lässt Russland stärker an dem europäischen Prozess der „Entzauberung“ des einstmals bewunderten Chinas teilnehmen als frühere Arbeiten zur Sinologie im Zarenreich. Aus dieser Umorientierung erhält die Annexion der Amur-Region im Kontext des zweiten Opiumkriegs eine Logik, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Doch ausschlaggebend waren die, von den Expansionsbefürwortern vor Ort durchaus manipulativ aufgearbeiteten Informationen über eine vermeintliche Bedrohungslage für Russland (Kapitel 11).
Afinogenovs Buch fügt sich nicht nur in den aktuellen Forschungstrend ein, die Vorgeschichte der im 21. Jahrhundert aufgeblühten sino-russischen Beziehungen zu untersuchen. Die Studie ragt daraus schon insofern heraus, als sie das 18. und frühe 19. Jahrhundert in den Blick nimmt. Die Quellenlage für diese Zeit ist disparat, der Autor geht meisterhaft damit um. Seine Fachkenntnis wird ihm – beziehungsweise der Leserschaft – stellenweise zu einem Problem: zu arabesk sind manche Argumentationsschritte verflochten. Hier hätte Afinogenov das eingangs skizzierte Modell der Wissensregime durchaus stärker als strukturierendes Gerüst der Darstellung nutzen können. Aber auch so erhält man nicht nur einen Überblick über die Wissensgeschichte des Zarenreichs, sondern verblüffende Einblicke in die russisch-chinesische Verflechtungsgeschichte.