Emily Senior arbeitet seit einigen Jahren an der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Ihre vorliegende Monographie ist daher interdisziplinär anregend. Das Buch bündelt fünf Fallstudien, die den wechselseitigen Einfluss von medizinischem Diskurs und literarischen Texten aus der und über die Karibik in den Jahrzehnten um 1800 untersuchen. Im gewählten Zeitraum galt die Karibik als „Grab“ für europäische Kolonisten, aus Afrika importierte Versklavte und indigenen Bevölkerungsgruppen, die in großer Anzahl an jeweils unterschiedlichen Krankheiten verstarben. Beobachtungen über die geographische und ethnographische Verteilung und den Verlauf tropischer Krankheiten regten zu Kontroversen über europäische und kreolische Identitäten an. Sowohl die hohen Verlustzahlen als auch die Konkurrenz unterschiedlicher Diagnosen und Therapien, darunter auch afro-karibische Behandlungen, setzten die Kolonialgesellschaft vor Ort unter Druck und beförderten zugleich eine europäische Debatte um die Abschaffung der Sklaverei.
Während J. R. McNeill in seinem Buch Mosquito Empires den Zusammenhang zwischen Krankheit und Kolonialpolitik über drei Jahrhunderte hinweg verfolgt hat1, widmet sich Senior bewusst einem enger abgesteckten Zeitraum. Ihr Buch setzt mit der Vergrößerung britischer Besitzungen in der Karibik nach dem Siebenjährigen Krieg und dem damit einhergehenden gesteigerten Interesse an der Region ein. Den Schlusspunkt bildet die Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien, die zudem mit einem Abwenden des medizinischen Interesses von Tropenkrankheiten hin zur neuen Wahrnehmung einer Bedrohung durch die Cholera in Europa zusammenfällt. Innerhalb der dazwischen liegenden sechs bis sieben Jahrzehnte beobachtet Senior ein gesteigertes Interesse in der englischsprachigen medizinischen und fiktionalen Literatur an der Karibik.
Senior verfolgt mit ihrem Buch vor allem drei Ziele: Erstens will sie untersuchen, wie medizinische und naturphilosophische Diskurse über Tropenkrankheiten die Entwicklung kolonialer und imperialer literarischer Texte beeinflussten (Dichtung, Drama, Roman). Zweitens zielt sie mit einer literaturwissenschaftlichen Analyse medizinischer Texte darauf ab herauszufinden, wie literarische Bilder der Karibik die medizinische Aufmerksamkeit und Darstellungsformen im medizinischen Diskurs prägten. Drittens hofft sie mit ihrer Untersuchung einen methodischen Beitrag zur Erforschung des Verhältnisses von Medizin und Literatur zu leisten.
Die fünf Kapitel des Buches sind drei Themenfeldern zugeordnet. Je zwei Kapitel widmen sich dem Zusammenhang zwischen ‚neo-hippokratischer medizinischer Geographie‘ und der literarischen Ästhetik des Pittoresken (Teil I) sowie kolonialen Körperkonzepten (Teil II), während das fünfte Kapitel die politischen Implikationen afro-karibischer Medizin („Obeah“) im Zeitalter von Revolution und Abolitionismus beleuchtet. Senior bezeichnet die Kapitel als „case studies“ (S. 17) zu verschiedenen Aspekten des Themas. Tatsächlich sind die Kapitel in sich mehr oder weniger abgeschlossen, vor allem das zentrale, auf einem bereits 2010 publizierten Aufsatz basierende Kapitel über „Skin, Textuality and Colonial Feeling“ in John Gabriel Stedmans Narrative (1790) über dessen Teilnahme an der Niederschlagung des Sklavenaufstands in der niederländischen Kolonie Surinam, das mit seinem geographischen Fokus aus dem engeren Rahmen der übrigen Kapitel herausfällt.
Auch Kapitel 1 stellt eine Interpretation eines einzelnen Textes dar, der Georgica-Adaption The Sugar-Cane (1764) des Arztes James Grainger, der in den 1760er Jahren auf St. Kitts praktizierte. Anhand dieses Beispiels vermag Senior die Aspekte ihres Themas aufzufächern. Nicht nur vereinte Grainger in seiner Tätigkeit Medizin und Literatur, auch verdeutlicht sein Werk die Bedeutung der Karibik und der Tropenkrankheiten sowohl in der transatlantischen Wissensproduktion als auch in der narrativen Erzeugung kolonialer Identität. Grainger, der als Schotte im britischen Medizinwesen benachteiligt war und daher eine Karriere in den karibischen Kolonien einschlug, wo er selbst Sklaven erwarb, verglich die Arbeitsbedingungen schottischer Minenarbeiter mit denjenigen der versklavten Afrikaner in der Karibik und wie sich das jeweilige Klima auf sie auswirkte. Er betonte die Bedeutung von in der Karibik erworbenen empirischen, vor allem medizinischen Erkenntnissen als Voraussetzung für die erfolgreiche Bewirtschaftung von Plantagen. Dabei grenzte er sich bewusst von der britischen akademischen Medizin ab und berücksichtigte sogar vereinzelt indigene und afro-karibische Behandlungen, deren Wirkungsweise er selbst ausprobiert hatte, auch wenn er solches Wissen meist in die Fußnoten seines Gedichts verdammte. Im Hinblick auf die Verbesserung der Plantagenwirtschaft übte er auch offen Kritik an einer nicht nachhaltig geformten Ausbeutungspraxis in Bezug auf Landschaft und Sklaven in der Karibik.
Kapitel 2 verlässt die quasi bodennahe Perspektive Graingers und wendet sich medizinischen Topographien der Karibik zu, die sich an der neo-hippokratischen Lehre vom Zusammenhang zwischen Klimazonen und Krankheiten orientierten. Diese Topographien zielten darauf ab, schon aus der Ferne visuell die potenziellen Krankheitsgefahren identifizieren zu können, die mit einer bestimmten Landschaft assoziiert wurden. Damit wurde diese Form medizinischen Wissens als entscheidend für den Erfolg von Kolonien eingestuft. Senior zeigt auf, wie sehr die medizinische Topographie und ihre Vorschläge für das agricultural improvement der Kolonien von zeitgenössischen Vorstellungen der pittoresken Landschaft beeinflusst waren, und wie die schwindende Hoffnung in die Verbesserung der Kolonien und die Anpassung von Europäern an das tropische Klima einhergingen mit der Entwicklung der literarischen colonial Gothic. Leider bezieht Senior hierbei ausschließlich literarische Landschaftsbeschreibungen ein, obwohl sie die Beteiligung von Landschaftsmalern bei der Topographie erwähnt und die Bedeutung von Vokabular aus der Malerei in den von ihr untersuchten Texten hervorhebt. Freilich ist das vorliegende Buch im Wesentlichen eine literaturwissenschaftliche Arbeit, dennoch hätte sie ihr Argument durch die Einbeziehung von Bildquellen noch stärken können.
Im 3. Kapitel über Stedmans Narrative bezieht sie dann tatsächlich die bekannten Illustrationen William Blakes in ihre Interpretation mit ein. Senior verlässt hier den visuellen Fokus des vorangegangenen Kapitels und wendet sich dem Tastsinn zu. Sie interpretiert Stedmans Text als geradezu obsessiv auf die Haut fokussiert. Auf der persönlichen Ebene sei Stedman angesichts vielfältiger Hautkrankheiten besessen von der Integrität seiner Haut gewesen. Darüber hinaus interpretiert Senior Stedmans Ausführungen zum Thema Haut vor dem Hintergrund zeitgenössischer medizinisch-rassistischer Debatten über klimabedingte Unterschiede in Hautfarbe und -aufbau. Schließlich widerspricht sie der etablierten Interpretation von Stedmans detaillierten Beschreibungen von Auspeitschungen, Häutungen und anderen an entlaufenen Sklaven verübten Körperstrafen als „sentimental ‚pornography‘“ (S. 101) und schlägt stattdessen vor, sie in Weiterführung von Mary Louise Pratt als eine „colonial sentimental science“ (S. 115) zu lesen. Denn Stedman zeigte sich einerseits von zeitgenössischen medizinischen Diskursen über Dermatologie, Irritabilität und Vitalismus beeinflusst, entzog sich und seine Leser andererseits aber nicht der emotionalen Dynamik der Konfrontation mit der Sklaverei. Damit unterscheidet sich Stedmans Werk auch grundsätzlich von den in den Kapiteln 1 und 2 diskutierten Texten, in denen Kritik an der Behandlung von Sklaven entweder der Stabilisierung der Plantagenwirtschaft dient oder gänzlich ausgeblendet wird.
Kapitel 4 analysiert das Konzept des „Kreolen“ in medizinischen Texten einerseits und in einem radikal-jakobinischen Roman der Revolutionszeit andererseits. Anhand des autopathographischen Berichts des Militärarztes George Pinckard über seine überstandene Gelbfiebererkrankung aus den 1790er Jahren zeigt Senior auf, wie diese traumatische Erfahrung Pinckard zu einem (in seinen Worten) „seasoned creole“ werden ließ, der nun die „privileges of West India freedom“ genießen könne (S. 125). Diese bemerkenswerte Lesart des „Kreolen“ als eines durch tropische Krankheitserfahrung abgehärteten Europäers steht diametral den zeitgenössischen Karikaturen der gesundheitlich und moralisch degenerierten weißen Plantagengesellschaft entgegen. Senior bettet Pinckards Bericht ein in den Kontext der zeitgenössischen Kontroverse zwischen amerikanischen und britischen Ärzten über Eigenschaften und Behandlung von Gelbfieber, bei welcher erstere selbstbewusst ihre empirischen Erfahrungen hervorhoben – wie Grainger bereits eine Generation zuvor (Kapitel 1). Senior stellt dieser positiv gewendeten medizinischen Lesart des „Kreolen“ dann ein ähnlich dynamisches Konzept von sozialer Kreolisierung zur Seite, allerdings will das hierfür gewählte Beispiel (ein sozialutopischer Roman) aus Sicht des Rezensenten nicht recht in das Thema der „medical imagination“ hineinpassen.
Nachdem im 1. bis 4. Kapitel die Perspektive weißer Kreolen im Vordergrund gestanden haben, unternimmt das letzte Kapitel den Versuch, die Agency subalterner medizinischer Akteure, der afro-karibischen Obeah-Männer und -Frauen zu rekonstruieren. Angesichts der problematischen Quellenlage ist dies allerdings nur indirekt möglich, indem Senior die überwiegend von Vorurteilen, Ängsten und Neid besetzten Beschreibungen aus der Feder der weißen Elite gegen den Strich liest. Während manche europäisch ausgebildete Ärzte – darunter auch Pinckard – das pflanzenkundliche Wissen und die Behandlungserfolge der afro-karibischen Frauen und Männer anerkannte, geriet die Praxis des Obeah durch deren Beteiligungen an Sklavenaufständen zunehmend unter Generalverdacht, wurde (vergeblich) unterdrückt und mit grausamen, theatralisch inszenierten Strafen geahndet. Der Glaube an dessen Wirksamkeit wurde sogar als ansteckende, gefährliche „mental illness“ interpretiert (174). Im Gegenzug behielten die Versklavten ihr medizinisches Wissen zunehmend geheim. Senior sieht diese Eskalation darin begründet, dass die Obeah-Praxis als eine Bedrohung der „secularity and singularity of European medical and scientific modernity“ (191) wahrgenommen wurde.
Trotz dieser postkolonialen Wendung bleibt Seniors Arbeit modernisierungstheoretisch belastet, wie bereits im Untertitel deutlich wird. So endet ihr Buch auch damit, wie sich die europäische medizinische Aufmerksamkeit im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts von der Karibik ab- und neuen Problemen zuwandte, wie der Cholera, Indien und schließlich den Krankheiten Afrikas, das die Karibik als „ [a] white man’s grave“ ablöste. Die Karibik erscheint auf diese Weise doch wieder nur als eine Episode in einer eurozentrischen Modernisierungserzählung. Aus der Perspektive eines historisch arbeitenden Rezensenten ist außerdem die Fokussierung auf gedruckte Texte unbefriedigend. Ihre Beobachtungen lassen sich jedoch produktiv in Beziehung setzen zu aktuellen historischen Forschungen auf der Basis abgefangener transatlantischer Briefe, z.B. von Annika Raapke.2 Insgesamt bietet Senior jedoch eine auf gründlicher Analyse der ausgewählten Texte basierende, überzeugende Interpretation kolonialer medizinischer Vorstellungen. Ihr Buch zeigt, wie lohnend es auch für die Medizin- und Wissensgeschichte sein kein, literarische Texte als Quellen stärker zu berücksichtigen.
Anmerkungen:
1 J. R. McNeill, Mosquito Empires: Ecology and War in the Greater Caribbean (1620–1914), Cambridge 2010.
2 Annika Raapke, The Pain of Senses Escaping. 18th-century Europeans and the Sensory Challenges of the Caribbean, in: Daniela Hacke / Paul P. Musselwhite (Hrsg.): Empire of Senses. Sensory Practices and Modes of Perception in the Atlantic World, Leiden 2017, S. 115-139.