Als die deutschen Streitkräfte am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfielen, wurde das Deutsche Reich substanziell von seinen damaligen Verbündeten Rumänien, Finnland, Ungarn, Slowakei, Kroatien und Italien militärisch unterstützt. Verglichen mit den deutlich bevölkerungsschwächeren Ländern Rumänien und Finnland, erwies sich Italiens militärischer Beitrag – vorerst zusammengefasst im Corpo di Spedizione Italiano in Russia (CSIR) – in quantitativer Hinsicht als bescheiden. Die Ursache dafür sind in der bisherigen italienischen kriegerischen Außenpolitik und der damit einhergehenden Zerstreuung der italienischen Streitkräfte über Afrika und den Balkanraum 1 zu finden, wie auch im Umstand, dass die italienische Motivlage für den Kriegseintritt nicht in einer territorialen Bedrohung durch die Sowjetunion (wie bei Finnland und Rumänien), sondern in einer willkommenen Gelegenheit sich als Großmacht und wertvoller Bündnispartner Berlins – nach schweren politischen Erschütterungen im Bündnis während des glücklosen italienischen Abenteuers gegen Griechenland 1940/41 – zu präsentieren.
Damit ist auch schon der geographische und zeitliche Rahmen skizziert innerhalb dessen, die von Bastian Matteo Scianna 2019 vorgelegte und zu besprechende Monographie, zu verorten ist. Während die italienische Kriegsführung in Nordafrika Gegenstand zahlreicher Abhandlungen geworden ist, gilt der italienische Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1943 auf Basis von militärischen Primärquellen in der internationalen Forschungslandschaft über größere Strecken noch als wenig beackertes Feld 2, das zu vermessen, der Autor sich zum Ziel gemacht hat. Konkret widmet sich Scianna der verfestigten (inter-)nationalen Stereotypen über die italienische Armee (Unfähigkeit zur erfolgreichen Kriegsführung) und ihre Soldaten (Feiglinge und Verräter), die auch Eingang in die Wissenschaft gefunden haben, welche er anhand des Fallbeispiels des italienisches Heeres (also unter Ausschluss von Marine und Luftwaffe) im Krieg gegen die Sowjetunion zu entmystifizieren versucht. Dabei untersucht er die Genese von Mythen, wer sie disseminiert hat und wie diese in der Nachkriegszeit gesellschaftlich debattiert wurden (S. 12f.). Antwort auf diese kulturgeschichtlichen Fragen versucht Scianna nicht nur in der Auswertung der geschichtspolitischen Debatten und der anekdotisch apologetischen Schriften im Nachkriegsitalien zu finden, sondern auch in der primärquellenbasierten Analyse der militärischen Operationen und des Zustandes der italienischen Armee.
Das dritte Kapitel (S. 39 – 64) ist einer Bestandsaufnahme der italienischen Landstreitkräfte gewidmet. Akribisch – an manchen Stellen zu sehr in technische Details gehend – analysiert der Autor den Zustand der italienischen Armee 1940/41. Bei der Personalbestockung fällt augenblicklich der geringe Anteil von Berufsoffizieren und -unteroffizieren – als professionalisierte Leistungsträger der Armee – und eine starke Stützung auf schlecht ausgebildete Reserveführer auf, wobei es paradox anmutet, dass mehr Offiziere als Unteroffiziere (Juni 1940) in der italienischen Armee eingereiht waren (S. 60.). Der personelle Schwachpunkt konnte nicht mit der materiellen Ausstattung kompensiert werden, stand doch der Leistungsausstoß der von wenigen verfügbaren Bodenschätzen geprägten italienischen Schwerindustrie in einem offensichtlichen Widerspruch zu den Bedürfnissen einer Armee mit offensivem Großmachtanspruch. Gerade bei den schweren Waffen hieß es meistens too little, too late (S. 52).
In den Kapiteln fünf bis sieben (S. 87-187) beschäftigt sich der Autor mit den militärischen Operationen der italienischen Streitkräfte an der Front zur Sowjetunion 1941-1943. Auf Basis von bisher unausgewerteten Primärquellen kann er stringent dokumentieren, dass die italienischen Verbände zwar in personeller und materieller Hinsicht nicht konkurrenzfähig zu den meisten deutschen Divisionen waren, sie aber mehrheitlich – im Gegensatz zu Stehsätzen in der Nachkriegspropaganda – die an sie gestellten Aufgaben erledigen konnten. Zudem erfüllte sie eine wichtige politische Aufgabe, indem das italienische Kontingent mehrfach zwischen rumänischen und ungarischen Truppen eingeschoben wurde, um zu verhindern, dass sich die beiden de jure Verbündeten – de facto standen aber Ungarn und Rumänien des Öfteren vor einem gegenseitigen Krieg – in die Quere kamen. Das achte Kapitel (S. 189-227) mit dem Untertitel „‚Chicken Led by donkeys‘?“ beschäftigt sich mit der Beurteilung der Kampfkraft der Italiener. An dieser Stelle greift Scianna folgerichtig auch auf sowjetische und deutsche Befunde zurück. Wenig verwunderlich schätzten sowjetische Militärs die italienischen Streitkräfte nicht als Hauptgegner ein, beurteilten aber ihre Verteidigungsfähigkeiten als gut, woher man zum Durchbruch bei zwei italienischen Divisionen lieber gleich mit zwei sowjetischen Armeen antrat (S. 193). In internen Wehrmachtsdokumenten (zumeist Berichte von Verbindungsoffizieren) zeigt sich ein positives Bild italienischer Kommandeure (Division bis Bataillon), während Subalternoffiziere und Unteroffiziere weniger günstig bewertet wurden (S. 225).
Die Kampfwerteinschätzung italienischer Verbände und die Zusammenarbeit mit der Wehrmacht wurde in zeitgenössischen Dokumenten jedenfalls deutlich besser als dargestellt als im politischen Diskurs und der Memoirenliteratur der Nachkriegszeit, wo sich weitgehend unreflektierte Annahmen zu Mythen verfestigten, wobei wir in das neunte Kapitel (S. 229-266) eintauchen. Die Entstehung des ersten Mythos, den Scianna hinterfragt, beginnt unmittelbar mit der vernichtenden Niederlage in Stalingrad 1942/43, in deren Strudel auch die italienische 8. Armee am Don geriet. Das italienische Opfernarrativ sah das Deutsche Reich als rücksichtslosen Verbündeten, der seinen Bündnispartner kaltblütig im Stich ließ, wodurch das italienische Kontingent in einen prekären Rückzug geriet. Scianna arbeitet die Grautöne in den Operationen heraus (S. 230-237) und argumentiert die Vitalität dieses selbst zugewiesenen Opfermythos mit der implizierten politischen Komponente; nämlich noch zu Kriegszeiten ein bedeutendes Argument für die Beendigung des Bündnisses mit dem Deutschen Reich und nach dem Krieg ein Erklärungsmuster für die militärische Niederlage in der Hand zu haben.
Der zweite Mythos betrifft die Nachkriegswahrnehmung der Verhaltensweise der italienischen Soldaten der Besatzungszeit in der Sowjetunion und deren Verwicklung in Kriegsverbrechen. In der italienischen Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft hielt sich sehr lange das Bild brava gente-Clichés, wonach – etwas übertrieben formuliert – die Italiener als gutherzige Menschen zu keiner bösen Tat in der Lage gewesen wären. In der Memoirenliteratur, aber auch seitens der Generalität wurde in der Nachkriegszeit das Narrativ des einfachen unpolitischen Soldaten, der anständig gekämpft habe, gepflegt. Auch wenn es hinreichend quellenbasierte Aufzeichnungen zu italienischem verbrecherischen Handeln gegen Zivilisten, Kriegsgefangenen und Partisanen gibt, so argumentiert Scianna, dass die italienischen Streitkräfte in der Sowjetunion keinen strukturierten auf rassischer Grundlage beruhenden Vernichtungskrieg führten und ihren Truppen auch keine carte blanche in Form des Kriegsgerichtsbarkeitserlass in die Hände gegeben wurde (S. 244-261).
Den dritten Täter-, Opfermythos verortet Scianna in der Agenda der italienischen Kriegsgefangenen in sowjetischem Gewahrsam, der in der italienischen Nachkriegsinnenpolitik des aufziehenden Kalten Krieges instrumentalisiert wurde. Während die politische Linke in den italienischen Kriegsgefangenen eingesperrte faschistische Invasoren sah, schmiedete die politische Rechte die hohe italienische Todesrate und die kommunistische Indoktrination zu einem Opfernarrativ, der sich nach und nach durchzusetzen begann. Damit wurde aber der Angriffskrieg bis Dezember 1942 weitestgehend ausgeblendet und die italienische Kriegsteilnahme an der Seite des Deutschen Reichs auf einen unzutreffenden alleinigen Opfermythos reduziert (S. 261-266), den Scianna mit seiner Analyse und Interpretation gekonnt offenlegt.
Die Verwendung von militärischen Primärquellen aus italienischen, deutschen und englischen Archiven ist eine besondere Stärke dieses 365 Seiten starken, in zwölf Kapiteln unterteilten Buches, das wärmstens zur Lektüre empfohlen sei. Hier geht Scianna konsequent einen richtigen Weg, zumal ein militärgeschichtliches Thema ohne eingehende Beschäftigung mit Truppenorganisation, -gliederung und -führung sowie Operationsverlauf zwangsläufig unvollendet bleiben muss. Gemeinsam mit der Gegenüberstellung von Memoirenliteratur, theoretischer Wissenschaftsdiskurse und innenpolitischer Narrative entsteht ein pluralistischer, die wichtigsten und divergenten Blickwinkel umfassender Methodenzugang, der geeignet ist, tradierte Mythen nachhaltig zu dekonstruieren. Scianna hat zweifelsohne einen bedeutenden Beitrag zur Versachlichung der Frage nach dem Wirken italienischer Soldaten an der Front zur Sowjetunion 1941-1943 geleistet, der als eine Landmarke für die nachfolgende Forschung dient.
Anmerkungen:
1 Dazu kürzlich erschienener innovativer Beitrag, siehe: Karlo Ruzicic-Kessler, Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941 – 1943, Berlin 2017.
2 Siehe dazu auch den Beitrag von: Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Italiener an der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussolinis Krieg gegen die Sowjetunion, München 2005.