C. Schayegh: Zehn Überlegungen zur Debatte „‚Außereuropäische Geschichte,‘ ‚Globalgeschichte,‘ Geschichte der Weltregionen: Neue Herausforderungen und Perspektiven“

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Cyrus Schayegh, International History Department, Graduate Institute for International and Development Studies, Genf

1. Der Begriff „außereuropäisch“ ist intellektuell kaum haltbar. „Außer“ ignoriert, dass es vielfältigste Verbindungen zwischen einem wie auch immer definierten Europa und „dem Rest der Welt“ gibt, und dass Europäer/innen in „Außer-europa“ leb(t)en und wirk(t)en und umgekehrt. Außerdem existiert „europäisch“ im Singular kaum. Europa ist weder extern klar abgegrenzt noch intern homogen. Und feingliedrige Geschichten von Perzeptionen und Projekten eines einheitlichen Europas haben ein Auge für innereuropäische Hierarchien und Ausgrenzungen – angeblich wenig(er) europäischer Sinti und Roma, Juden, Katholiken, Muslime, Süd- oder Osteuropäer, Unterschichten, usw. – die diesem wie jedem Zivilisationsprojekt innewohnen.

2. Beiträge zur Debatte „‚Außereuropäische Geschichte‘ ...“ sezieren den Begriff „Weltregion“ mehr als den Begriff „global“. Doch beide sind zu problematisieren, wobei festzuhalten ist, dass ihre „Probleme“ verschiedener Natur sind.

3. Der Begriff „Weltregion“ ist höchst ambivalent. Einerseits liebäugelt er mit dem Globalen. Weltregionen sind nicht einfach die „areas“ der areas studies, sind nicht kulturell-zivilisatorisch verschieden gestrickte Regionen in der Welt, sondern (die) Regionen der Welt. In diesem Sinne sind sie prinzipiell gleichwertig, werden nicht an einem westlichen/europäischen Maßstab gemessen. Deshalb ja auch die veränderte Terminologie: Südamerika anstatt Latein-amerika versus Nord-amerika; Ostasien statt des von Europa aus gesehen Fernen Ostens. Andererseits gibt es Ausnahmen wie den Nahen/Mittleren Osten, und politische (Hinter)gründe der kartographischen Repräsentation von Himmelsrichtungen und der Bennenung von Kontinenten existieren nach wie vor.1 Wichtiger noch ist, dass der Begriff „Weltregion“ die essentialistische Altlast des zivilisatorisch-kulturell aufgeladenen Begriffs „area“ nicht effektiv abzuschütteln vermag. Lewis, der den Begriff „world region“ als „alternatives Schema“ zu Kontinenten und traditionellen „areas“ diskutiert, gesteht ein, dass „most world regionalization systems arrive at essentially the same set of macrocultural zones“ und dass dem Begriff Weltregion ein „residual baggage of geographical determinism“ innewohnt.2 Dies zeigt sich schon quantitativ. Südamerika z.B. ist deckungsgleich mit Lateinamerika, Ostasien mit dem Fernen Osten, und Afrika und der Mittlere Osten sind sowieso immer noch Afrika und der Mittlere Osten. Dazu kommt, dass nur großräumige – implizit eben immer noch kulturell-zivilisatorisch unterlegte – Gebiete als Weltregionen gelten.

4. Im Begriff „Weltregion“ werden oft neuere, als Zirkulationssphären definierte (See)gebiete und ältere, ursprünglich kulturell-essentialistisch definierte (Land)gebiete über einen Leisten geschlagen: hier eine traditionelle „trait geography,“ dort eine „process geography,“ um mit Willem van Schendel zu sprechen.3 Diese Vermischung bringt einen Erkenntnisgewinn, kann aber auch verwirren.

5. Der Begriff „Weltregion“ hat eine verflachende Wirkung.4 Er lässt uns einiges schnell vergessen: zum einen, dass sich die Funktionsweise von Regionen mit der Zeit ändert. (Anders konzipiert ist z.B. der explizit diachronische und heuristische Begriff „historische Mesoregion“5). Zum anderen sind Regionen miteinander verwoben und überlappen. Und sie beinhalten oft „Unterregionen“, die dazu noch an ihren Grenzen mit anderen Regionen überlappen. Man denke an das Verhältnis des Mittleren Ostens zu älteren Gebieten/Begriffen wie Maghreb oder Bilad al-Sham, Großsyrien, und zur Arabischen Welt, zur Türkei, zum Iran, zu Zentralasien und zur islamischen Welt.6

6. Ob man „global“ empirisch nachzeichnet oder als Perspektive versteht7, er ist ein Überbegriff, der verschiedene räumliche Logiken unter einem Mantel vereint und schnell auch verdeckt – ein Problem, aber ein anderes als der dem Begriff „Weltregion“ anhaftende Essentialismus. Man kann dies bündig, und sich hier auf nur vier Logiken beschränkend, anhand der Formel 1+2+3+n aufzeigen. „Global“ kann sein: (a) die Summe der „sub-globalen“ Glieder 1, 2, 3 bis n; (b) die Natur der Ketten und ihrer Akteure (die „+“); (c) Systemeffekte, die aus Gliedern, Ketten und Akteuren erwachsen (hier ist das Ganze mehr als die Summe der Glieder); und (d) Perzeptionen von (a), (b) und (c).

7. Aus dem fünften und sechsten Punkt folgt, dass „Weltregion“ und „global“ nicht eindeutig verschieden und klar trennbar sind. Konsequenterweise machen Begriffspaare wie „global“ versus oder und „Weltregion“ wenig Sinn.8 Dies zeigt sich auch institutionell. Vor meiner Anstellung am International History Department des Graduate Institute for International and Development Studies war ich associate professor an einem der ersten area studies departments der Vereinigten Staaten, dem Near Eastern Studies Department der Universität Princeton – und meiner Erfahrung nach unterscheiden sich die Fragen, die gute Studenten/innen in den zwei Departments stellen, in Nuancen und nicht fundamental.

8. Anstatt zu versuchen, „Weltregion“ und „global“ voneinander zu trennen, sollten wir lieber, Pierre-Yves Sauniers Rat folgend, „circulatory regimes“ bestimmter historischer Prozesse umreißen und filetieren.9 Verschiedene Aspekte können hier studiert werden: prozessinterne Knotenpunkte, Verknüpfungspunkte mit anderen Prozessen, Ketten und Verbindungen zwischen solch verschiedenen Punkten, Grenzgebiete, interne anti-prozessuelle Widerstandszonen, neue und alte Barrieren, die der uns interessierende Prozess für manche Leute aufwirft, „schwarze Löcher,“ in denen „unser“ Prozess gar nicht erst erscheint, die Akteure und ihre Kapitaltypen, die all diese Effekte erzeugen, frühere sozio-räumliche Muster, die ein entstehendes Regime beeinflussen, usw.

9. All dies bedeutet nicht, dass eine Weltregion nie forschungsrelevant sein kann. Perzeptionell zum Beispiel wurde der Begriff „der Mittlere Osten“ im zwanzigsten Jahrhundert relevant für viele in der Region und auch sprachlich verankert: al-Sharq al-Awsat auf Arabisch, ha-Mizrah ha-Tikhon auf Hebräisch, und Khavar Miyaneh auf Persisch, um nur drei zu nennen. Aber sicher ist, dass eine Region nie a priori vorgegeben ist. Vielmehr müssen wir sie immer a posteriori nachzeichnen. Und auch dann ist sie nie homogen, und ihre Form und Funktion ändert sich mit der Zeit.

10. Was bedeutet all dies für die Praxis, und besonders für die Ausbildung von Nachwuchshistoriker/innen? Ich möchte hier den meiner Ansicht nach wichtigsten Punkt ansprechen: der Erwerb von Fremdsprachen, inklusive und v.a. nicht-westlicher, die für feingliedrige globalgeschichtliche Studien unabdingbar sind. Dies kann nicht erst während des Doktorandenstudiums beginnen. Dann ist es zu spät: Sprachunterricht ist bekanntlich zeitraubend. Vielmehr sollte der Fachbereich Globalgeschichte, seine fortschreitende institutionell-universitäre Verankerung auch an deutschsprachigen Universitäten ausnützend, einen „track“ für seine Studenten einfordern und das Erlernen einer forschungsrelevanten Fremdsprache schon ab dem Bachelor zum Obligatorium machen. Es ist wahrscheinlich, dass nach einigen Jahren neue Doktoranden vermehrt einen solchen Weg schon hinter sich haben werden. Da viele Universitäten wichtige westliche und nicht-westliche Fremdsprachenkurse sowieso schon anbieten, sollte einer solchen Neuerung auch finanziell und organisatorisch wenig im Wege stehen. Dies ist meinen nordamerikanischen Erfahrungen nach zu urteilen umso wichtiger, als führende global- und transnationalhistorische Nachwuchshistoriker/innen auf der anderen Seite des Atlantiks sehr oft schon mit mindestens einer nicht-westlichen Sprache in Doktoratsprogramme einsteigen, und weil solvente nordamerikanische Universitäten den Spracherwerb auch für Doktoranden während der Semester und in den Sommerferien gezielt fördern – und dies nicht nur im Fall von area studies Studenten, sondern auch von Historiker/innen. Natürlich verfügen hiesige Universitäten über begrenztere Mittel. Aber es kann nicht unmöglich sein, Spracherwerb ernsthafter zu organisieren. Kurzum: Das pädagogische Konzept eines Fachbereichs Globalgeschichte sollte seine Epistemologie in seiner ganzen Bandbreite reflektieren.

Anmerkungen:
1 Martin Lewis / Kären Wigen, The Myth of Continents: A Critique of Metageography, Berkeley 1997.
2 Lewis / Wigen, Myth, S. 115, 134.
3 Willem van Schendel, Geographies of Knowing, Geographies of Ignorance, in: Paul Kratoska et al. (Hrsg.), Locating Southeast Asia: Geographies of Knowledge and Politics of Space, Athens 2005, S. 275-307.
4 Man vergleiche hierzu Fredrick Cooper, What Is the Concept of Globalization Good for?, in: African Affairs 100 (2001), S. 189-213, und Überlegungen zum Begriff “Region” von Geographen wie Paul Claval, Histoire de la Géographie, Paris 1996, S. 97–115, und Tim Cresswell, Geographic Thought: A Critical Introduction, Chichester 2013, S. 61-75.
5 Siehe Holm Sundhaussen, Die Wiederentdeckung des Raumes: Über Nutzen und Nachteil von Geschichtsregionen, in: Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt (Hrsg.), Südosteuropa. Von vormoderner Vielfalt und nationalstaatlicher Vereinheitlichung, Munich 2005, S. 13-33.
6 Dazu exemplarisch: Nile Green, Rethinking the Middle East after the Oceanic Turn, Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 34 (2014), S. 556-564.
7 Siehe z.B. Sebastian Conrad, What is Global History?, Princeton 2016.
8 Siehe dazu auch Cyrus Schayegh, The Middle East and the Making of the Modern World, Cambridge, Mass., 2017, das sich mit der Räumlichkeit der modernen Welt beschäftigt und das heuristische Modell „Transpatialisation“ entwickelt.
9 Pierre-Yves Saunier, Transnational History, London 2013, S. 59.