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Title
Islam in Europe.


Author(s)
Goody, Jack
Published
Cambridge 2004: Polity Press
Extent
178 S.
Price
$ 22.95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Raphaela Veit, Historisches Seminar, Universität Tübingen

Mit Jack Goody hat einer der bekanntesten englischsprachigen Sozialanthropologen ein Buch vorgelegt, dessen aktuelle Brisanz kaum zu übertreffen sein dürfte: "Islam in Europe". Der Band umfasst 178 Seiten und gliedert sich in vier Kapitel. Das erste und über die Hälfte der Ausführungen einnehmende mit dem Titel "Past Encounters" (S. 10-109) geht auf einen bei der Socialist History Group in London gehaltenen Vortrag zurück. Das zweite Kapitel "Bitter Icons and Ethnic Cleansing" (S. 110-132) erschien zunächst in New Left Review (7 / 2002) und in überarbeiteter Fassung in History and Anthropology (13 / 2002). Auch das mit "Islam and Terrorism" überschriebene dritte Kapitel (S. 133-145) wurde bereits in der letztgenannten Zeitschrift (ebenfalls 13 / 2002) veröffentlicht. Eigens für diesen Band abgefasst wurde das vierte Kapitel "The Taliban, the Bamiyan and Us - the Islamic Other" (S. 146-160). Das Buch bildet folglich kein geschlossenes, sich der historischen oder ethnologischen Methode verpflichtendes Ganzes, sondern setzt sich aus aktuellen Essays Goodys zum Thema zusammen, die - wie er selbst betont (Prolog) - für den nicht-wissenschaftlichen Leser bestimmt sind, aber erfreulicherweise dennoch Anmerkungen in Form von Endnoten (S. 161-163) enthalten. Drei Karten zu historischen Abläufen (S. 22, 39 und 52), ein Register (S. 172-178) sowie eine Referenz- und Auswahlbibliographie (164-171) erleichtern gerade dem anvisierten Leserkreis den Zugang.

In der Einleitung (S. 1-9) präzisiert der Autor ausgehend von den Ereignissen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sein Anliegen, die Ziele und Errungenschaften des Islam herauszuarbeiten, um dadurch zu einem tieferen Verständnis des Islam gestern wie heute zu gelangen. Die Leser sollen den Islam als neben Juden- und Christentum dritte monotheistische Religion mit alttestamentlichen Wurzeln wie auch als eine der prägenden intellektuellen und religiösen Strömungen in Europas Vergangenheit wie Gegenwart akzeptieren lernen.

Das erste Kapitel beschreibt mit einer enormen Detailfülle an Fakten und Daten die von Goody ausgemachten drei Ströme des Islam nach Europa sowie den kulturellen und wirtschaftlichen Austausch. Der "südliche Weg" (S. 19-37) thematisiert das historisch erste Vordringen von Muslimen nach Europa, das der Araber seit dem 8. Jh. auf die Iberische Halbinsel, darüber hinaus zeitweise nach Frankreich und vor allem auch nach Sizilien und Süd-Italien. Weniger umfangreich wird der "mittlere Weg" (S. 37-49) abgehandelt, der der osmanischen Türken seit dem 14. Jahrhundert über den Balkan bis nach Ost-Europa, wobei die Türken mehrfach vor Wien standen. Erst nach Bannung der "Türkengefahr" im 18. Jh. war Mittel- und Westeuropa offen und rasch begierig auf kulturelle Errungenschaften aus Süd-Osten, was sich beispielsweise in der sog. "Türkenmode" manifestiert. Am knappsten stellt sich der "nördliche Weg" (S. 49-56) dar, der die frühmittelalterlichen Tatareneinfälle nach Süd-Russland und die Mongoleninvasion im 13. Jahrhundert nach Süd-Russland wie nach Polen und Litauen beschreibt, was die zeitweise ausgedehnte Herrschaft der Goldene Horde in diesem Gebiet zur Folge hatte.

Das Unterkapitel zu den kulturellen Einflüssen dieser drei Ströme (S. 56-83) behandelt in bekannter Manier das islamisch-orientalische Erbe für Europa (Wissenschaften, Papierherstellung, Bewässerungssysteme, Musik, Literatur, (Bau-)Kunst), wobei Goody zu Recht herausstellt, dass der "südliche Weg" der kulturell ergiebigste für Europa war. Ein weiteres Unterkapitel hebt eigens die Bedeutung von Handel für christlich-islamischen Austausch hervor (S. 83-88), im folgenden Unterkapitel (S. 88-95) werden gemeinsame aber teilweise in der Akzentuierung unterschiedliche Wertigkeiten in Christentum und Islam diskutiert. Ein abschließendes Unterkapitel führt die historische Darstellung in die Moderne und thematisiert die heutige Situation von muslimischen Immigranten in diversen EU-Staaten (S. 95-109).

In Kapitel 2 zu "Bilderverbot" und "ethnische Säuberungen" legt Goody mit Verweis auf Krisengebiete weltweit überzeugend dar, dass ethnische Säuberungen häufig, wenn auch sicherlich nicht immer, religiös motiviert sind. Hier mahnt er bei von den säkularen Ideen der Aufklärung geprägten westlichen Wissenschaftlern zu Recht vermehrt eine Berücksichtigung religiöser Faktoren bei der Beurteilung von Krisen an (S. 132).

Im dritten Kapitel zu "Islam und Terrorismus" führt Goody nachvollziehbar aus, dass die Qualifizierung "Terrorist" oder "Terrorismus" entscheidend von der Betrachtungsweise des Beurteilenden abhängt. Schlüssiges Argument hierfür ist, dass nicht wenige heute von der Weltengemeinschaft anerkannte Staatsoberhäupter ihre politische Karriere als "Terroristen" begannen.

In Kapitel 4 versucht Goody eine Relativierung der Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban durch Verweise auf Bilderfeindlichkeit und -stürme in den anderen Weltreligionen. Bei allem Respekt vor unterschiedlichen religiösen Einstellungen, Goodys Argumentation mag als Erklärungsmodell dienen, darf aber nicht als Entschuldigung für die unwiederbringliche Zerstörung von Weltkulturgut geltend gemacht werden.

Das Anliegen Goodys, den Islam als eine Komponente Europas gestern wie heute herauszuarbeiten, könnte ehrenwerter nicht sein, und der von ihm historisch wie regional gespannte Bogen ist sauber recherchiert und dargestellt. Im Detail haben sich jedoch gelegentliche Fehler oder Unausgewogenheiten eingeschlichen:
- Der Werbetext auf der Einbandrückseite vermittelt irritierenderweise den Eindruck, Bosnien und Albanien seien nicht Teile Europas.
- Goody postuliert islamischen Einfluss bei der Gründung der Medizinischen Schulen von Salerno und Montpellier (S. 58). Dies ist angesichts der großen Unklarheiten um die Entstehung dieser mittelalterlichen Lehrstätten in den Bereich der Spekulation zu verweisen.
- Als einen der arabisch schreibenden Hauptvermittler der Inhalte Hippokrates' und Galens an Europa nennt Goody den Perser Haly Abbas (10. Jh.) (S. 60). Dies ist nicht falsch, im Gegensatz zu dem von Goody nicht erwähnten Canon, dem medizinischen Hauptwerk Avicennas (10. / 11. Jh.), spielte Haly Abbas' Enzyklopädie (Pantegni bzw. Liber Regalis) jedoch nur eine untergeordnete Rolle im europäischen Medizinunterricht. - Bei Constantinus Africanus (11. Jh.), dem ersten bedeutenden Übersetzer arabischer Wissenschaftswerke ins Lateinische, liest man - neben nicht als solchen gekennzeichneten legendenhaften Bruchstücken zu seinem Leben - die unsinnige Behauptung, Constantinus' Werk, also lateinische Versionen arabischer Texte, seien über die arabisch-lateinischen Übertragungen des in Toledo wirkenden Gerhard von Cremona (12. Jh.) nach "Arab Spain" und "Europe" gelangt (S. 62).
- Nachdem Goody auf S. 27 die Zeiten der Reconquista schlüssig darstellte, erweckt er auf S. 34 den Eindruck, dass erst 1492 mit dem Fall Granadas wieder christliche Herrscher in Spanien und Portugal an die Macht kamen, während doch mit Granada - sicher von hohem Symbolwert - nur die letzte islamische Bastion fiel. Dass Goody auf S. 125 fälschlicherweise das Jahr 1472 für den Fall Granadas angibt, mag ein bloßer Druckfehler sein.
- Leider verzichtet Goody in Kapitel 1 auf eine religiöse Charakterisierung der einen teilweise äußerst unterschiedlichen Islam repräsentierenden drei Gruppen (Araber - Türken - Tataren / Mongolen), während er in Kapitel 2 für die Moderne eine ausgewogene Differenzierung islamischer Strömungen bietet.

Die Schwachstelle der Argumentation liegt bei der zwanghaft wirkenden Konstruktion der drei Einflusswege, die im ersten Kapitel für den Islam in Europa postuliert werden. Goody problematisiert nicht den Umstand, dass - im Gegensatz zum "südlichen" und "mittleren Weg" - beim "nördlichen" Heere nach Europa einfielen, die - wenn überhaupt - zu der Zeit nur sehr oberflächlich islamisiert waren. Offenbar mangels Materials zu der Bedeutung der Tataren und Mongolen verweist der Autor in diesem Unterkapitel (S. 49-56) auf die osmanische Kontrolle des Schwarz-Meer-Gebiets sowie auf osmanische Vorstöße nach Polen. Letztlich wäre es konziser und stimmiger, die hier besprochenen Konflikte mit den Osmanen im Kontext des "mittleren Weges" darzustellen und den Einfall von Tataren und Mongolen allenfalls knapp zu skizzieren, anstatt einen zu den arabischen und türkischen Einfällen gleich bedeutsamen dritten Weg zu konstruieren. Schließlich räumt Goody selbst die geringe Bedeutung der Mongolen für den Islam in Europa ein mit dem Hinweis darauf, dass dieser sich auf die Befriedung des Ost-Asien-Handels über die Pax Mongolica und die Bekanntmachung der Europäer mit chinesischem Schießpulver und Feuerwerksraketen beschränke (S. 65).

Bei aller Kritik im Detail ist abschließend aber festzuhalten, dass das Buch sein Anliegen in überzeugender und größtenteils außerordentlich solider und ausgewogener Weise dem Leser vermittelt. Bislang liegt keine deutsche Übersetzung vor (wohl aber eine französische), es ist jedoch in flüssigem Stil geschrieben und auch für den Nicht-Englisch-Muttersprachler gut zu lesen. Die breite Diskussion des Buches im Internet lässt Rückschlüsse auf die Popularität und die Nachfrage des Bandes zu, die in jedem Fall verdient sind. Möge das Buch noch viele Leser finden!

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25.05.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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