Alltag in transnationaler Perspektive, oder: Zur Aktualität der Alltagsgeschichte - Everyday Life in Transnational Perspective: Alltagsgeschichte Revisited

Alltag in transnationaler Perspektive, oder: Zur Aktualität der Alltagsgeschichte - Everyday Life in Transnational Perspective: Alltagsgeschichte Revisited

Organizer
Sebastian Jobs, Claudia Kraft, Jürgen Martschukat, Reiner Prass und Birgit Schäbler - Historisches Seminar der Universität Erfurt
Venue
Internationales Begegnungszentrum der Universität Erfurt (IBZ), Michaelisstraße 38, D-99084 Erfurt
Location
Erfurt
Country
Germany
From - Until
24.10.2008 - 25.10.2008
Website
By
Johannes Eberhardt, Münzkabinett, Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin - Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Den Alltag als Kategorie der Geschichtswissenschaft zu etablieren, war die Alltagsgeschichte in den frühen 1980er-Jahren angetreten. Damit war die Erwartung verknüpft, den Menschen aus dem Korsett der Strukturen zu befreien und zu zeigen, dass Strukturen im Alltag nicht nur passiv erfahren und angeeignet, sondern auch von den einzelnen Menschen ihren Bedürfnissen angepasst und dabei kreativ verändert werden konnten. Ganz besonders galt es, das Handeln derer zu rekonstruieren und verstehbar zu machen, deren Existenz bis dahin nicht im Zentrum geschichtswissenschaftlichen Interesses gestanden hatte.

Dabei erwies sich der Alltag als Ort, an dem sich der Sinn sozialer Existenz erst realisierte und an dem produktive Aneignungen, Abweisungen und Bedeutungsverschiebungen der strukturellen (Sinn-)Vorgaben geschahen. Damit wurden aus Handelnden AkteurInnen, deren „Eigen-Sinn“ geschichtsmächtig war. Der Begriff des Eigen-Sinns wurde von Alf Lüdtke, einem der profiliertesten Begründer und Vertreter der Alltagsgeschichte, auf den Punkt gebracht. Er beschrieb damit die Formen, in denen Fabrikarbeiter in der Industrialisierung sich strukturelle Vorgaben wie Verhaltensordnungen am Arbeitsplatz ‚zu eigen’ machten, ihrer Lebenswelt anpassten und damit Neues schufen - und sich eben nicht als willige Agenten übergeordneter struktureller Prozesse entpuppten. 1

In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre schien die Diskussion um den Alltag als theoretische Kategorie historischer Forschung zunächst beendet. Die Debatten um eine Überwindung der Fixierung auf Strukturen wurden in den Geschichtswissenschaften nun anhand der neuen Leitkategorie ‚Kultur’ diskutiert. Diese konnte ein breiteres thematisches wie methodisches Spektrum abdecken, als es der Begriff der Alltagsgeschichte vermocht hatte. Doch auch wenn sich die neuen theoretischen Debatten unter dem Einfluss der verschiedenen „turns“ eher um Begriffe wie eben Kultur, Erinnerung, Sinn, Körper oder Kommunikation drehten, stützen sie sich wesentlich auf Erkenntnisse und Argumente, die die Alltagsgeschichte befördert hatte.

Bis zum Oktober 2008 hat die Alltagsgeschichte in Form der von Alf Lüdtke und Hans Medick (bis 2005) geleiteten „Arbeitsstelle Historische Anthropologie“ an der Universität Erfurt einen Ort institutioneller Verankerung. In der Zusammenarbeit mit der weltregional ausgerichteten Erfurter Geschichtswissenschaft wurden hier alltagsgeschichtliche Konzepte auch auf ihre Tragfähigkeit in außereuropäischen Kontexten oder Europa provinzialisierenden Perspektiven befragt. Die Konferenz möchte vor diesem Hintergrund über den Ort der Alltagsgeschichte in den gegenwärtigen Theoriedebatten diskutieren und nach dem heuristischen Potential dieses Ansatzes fragen. Dazu soll in vier Kernbereichen das Konzept „Alltag“ in transnationaler Weise an neueren Frage- und Problemstellungen erprobt werden: Erstens im thematischen Feld „Alltag und koloniale Erfahrung“, zweitens im Bereich „Alltag in totalitären Gesellschaften und seine Aufarbeitung“, drittens im Feld „Alltag und Ausnahmezustand“ und viertens anhand neuer Erkenntnisse im traditionellen Forschungsfeld der Alltagsgeschichte „Herrschaft als soziale Praxis: Zählen, Vermessen, Regulieren, Kategorisieren“. Die Konferenz widmet jedem dieser Felder eine eigene Sektion und diskutiert Beispiele aus Surinam und Französisch-Guyana, Chile, Polen, dem frühneuzeitlichen Italien, dem Kaiserreich und dem nationalsozialistischen Deutschland. Alf Lüdtke wird zum Abschluss der Veranstaltung Bilanz ziehen und dabei zugleich einen Blick in die Zukunft werfen.

Zuhörende und Mitdiskutierende sind herzlich willkommen. Da die Plätze begrenzt sind, bitten wir um Anmeldung bei: <Johannes.Eberhardt@stud.uni-erfurt.de>

Anmerkung:
1 Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg: Ergebnisse Verlag, 1993.

Programm

Program: Everyday Life in Transnational Perspective: Alltagsgeschichte Revisited

Friday, October 24, 2008

2.30 pm: Opening Speeches
3.00 – 5.00 pm: Opening Session: Alltagsgeschichte and Colonial Experience, or: Postcolonial Perspectives in the History of Everyday Life

Birgit Schäbler (Erfurt University): Chair

Richard Price (College of William and Mary, Williamsburg, USA): Keynote address
The Past in the Present and Other Worlds in Ours: What Saramakas Have Taught me about Alltagsgeschichte.

Dipesh Chakrabarty (University of Chicago): Commentary

5.00-5.30 pm: Coffee Break

5.30 –7.30 pm: Session 1: Coming to Terms with the Past in the History of Everyday Life: Dealing with Dictatorships. Actors – Documents - Researchers

Dorothee Wierling (Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg): Chair

Stephan Scheuzger (ETH Zürich): Dealing with the Experience of Dictatorship in Latin America: The Case of Chile

Dobrochna Kałwa (Jagiellonen-University, Kraków): Alltagsgeschichte, Oral History and other Approaches to Come to Terms with the Past in Poland

Volker Zimmermann (ICOMOS, Paris): Commentary

Saturday, October 25, 2008

10.00-12.00 am: Session 1: Everyday Life and States of Emergency

Jürgen Martschukat (Erfurt University): Chair

Peter Burschel (Rostock University): Excess. Versions of the „Sacco di Roma“ (1527).

Michael Wildt (Hamburger Institut für Sozialforschung): Converting the State of Emergency into Everyday Practice: Violence in Nazi Germany.

Silvan Niedermeier (Erfurt University): Commentary

12.00-2.00 am: Lunch

2.00-4.00 p.m.: Session 3: Administering Everyday Life

Hans Medick (Göttingen): Chair

Morgane Labbé (EHESS, Paris): To Administer from Outside: Between Discipline and Resistance Against the Statistical Surveys of Prussia.

Philipp Müller (University College London): Reform and Change. Police Supervision in Imperial Germany.

Claudia Müller (Leeds Metropolitan University): Commentary

4.00-4.30 p.m. Coffee Break

4.30-5.30 pm: Closing Session

Sebastian Jobs (Erfurt University): Chair

Alf Lüdtke (Erfurt University): Alltagsgeschichte: A Look Back and Perspectives for the Future

Contact (announcement)

Johannes Eberhardt
E-Mail: <johannes.eberhardt@stud.uni-erfurt.de>


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Published on
07.10.2008
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