Das Bild des Fremden in Frankreich und Deutschland: 19. und 20. Jahrhundert

Das Bild des Fremden in Frankreich und Deutschland: 19. und 20. Jahrhundert

Organizer(s)
Cité nationale de l'histoire de l'immigration, Paris Deutsches Historisches Museum, Berlin
Location
Strasbourg
Country
France
From - Until
29.11.2007 - 01.12.2007
Conf. Website
By
Jan Werquet, Deutsches Historisches Museum Berlin

Das Kolloquium bereitete wissenschaftlich-thematisch eine Ausstellung vor, die von der Cité Nationale de l’Histoire de l’immigration und dem Deutschen Historischen Museum, Berlin, realisiert wird. Diese soll zuerst in Paris (15. Dezember 2008 – 15. April 2009) und anschließend in Berlin (28. August 2009 – 3. Januar 2010) zu sehen sein und die Zusammenhänge zwischen der Konstruktion des „Eigenen“ und der Konstruktion des „Anderen“ in Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich beleuchten. Die Tagung schlug in der Abfolge ihrer einzelnen Sektionen einen weiten Bogen von der Immigrationsgeschichte beider Länder bis zur Repräsentation der Migrantengruppen in Staat und Medien. Einen zentralen Stellenwert nahmen dabei Aspekte von Identitätsbildungsprozessen und kollektiven Selbstdefinitionen ein.

In einer einführenden Sektionen stellten JACQUES TOUBON (Präsident des Conseil d’orientation der Cité) und HANS-MARTIN HINZ (Mitglied der Gesamtleitung des Deutschen Historischen Museums) die beiden Häuser und deren museumspolitische Ziele vor. Sie übermittelten auch die Grüße von Hans Ottomeyer, dem Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums, der der Tagung ein gutes Gelingen wünschte und die gesellschaftspolitische Bedeutung des Ausstellungsprojekts unterstrich. SALAH OUDAHAR (Direktor des Festivals Strasbourg-Méditerranée) ordnete das Kolloquium in den thematischen Rahmen der Veranstaltung ein, der in diesem Jahr unter dem Motto „tomber la frontière“ steht.

Die von Hans-Martin Hinz moderierte Sektion „Integrationsgeschichte, politisches System und Staatsbürgerschaft“ wurde von GÉRARD NOIRIEL (Paris) eröffnet, der einen Überblick über die Geschichte der Immigration in Frankreich gab und dabei die Unterschiede zur deutschen Migrationsgeschichte herausarbeitete. Ein besonderes Augenmerk richtete er dabei auf die Wechselbeziehungen von Fragen der nationalen Identität und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie der gegenseitigen Beeinflussung des deutschen und des französischen Nationskonzeptes. Hieran knüpfte der Beitrag von DIETER GOSEWINKEL (Berlin) an, der die Wandlungen der Staatsbürgerschaft in Deutschland und Frankreich von 1870 bis heute untersuchte. Er relativierte die idealtypische Gegenüberstellung von Abstammungs- und Territorialprinzip und vertrat die These, dass der Einfluss unterschiedlicher Nationskonzepte auf die Staatsbürgerschaft im Verlauf der Zeit abnahm und deren Wandel unter dem wachsenden Einfluss politisch-sozialer Rahmenbedingungen stand. ANNE KLEIN (Köln) beleuchtete die spezifischen Konstruktionsweisen des „Fremden“ gegen Ende der III. Republik und zur Zeit des Vichy-Regimes. Demnach gingen ab 1940 Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus eine enge Verbindung ein. Im Bild des „étranger“ entstand eine exkludierende Konstruktion, die jedoch auch in Frage gestellt, relativiert und unterlaufen wurde. In seinem Beitrag über die Nation im Elsass arbeitete YVES FREY (Mulhouse) heraus, dass nicht nur die wechselnden Grenzverläufe, sondern auch die verschiedenen Konzeptionen der Nation auf deutscher und französischer Seite die Definition des Fremden und dessen Bild modifizierten. Dies habe die Mentalität der elsässischen Bevölkerung langfristig geprägt und bestimme noch heute in dieser Region die Diskurse über die Einwanderung.

Die Nachmittagssektion „Politik und Verwaltungspraktiken“, die unter dem Vorsitz von CATHERINE WIHTOL DE WENDEN (Paris) stand, wurde von MARCEL BERLINGHOFFs (Heidelberg) Beitrag über den administrativen Umgang mit Migranten in Deutschland und Frankreich seit den 1970er-Jahren eröffnet. Dieser behandelte die Vorgeschichten und Folgen der Anwerbestopps in beiden Ländern und hob dabei das reziproke Verhältnis von öffentlichem Diskurs und Gesetzgebung hervor. CYRINE HAMIDA (Berlin) behandelte in einer vergleichenden Analyse den Blick der Sozialpartner auf die Arbeitsimmigration. EMILIE ELONGBIL EWANE (Lyon) untersuchte in ihrem Beitrag die Unterkünfte von Immigrantenfamilien in Berlin (West) und Lyon in den Jahren 1950 bis 1970. Dabei hob sie die unterschiedlichen Gruppen und Verbände hervor, die sich in beiden Städten für eine Verbesserung der meist ungesunden Lebensbedingungen einsetzten. Der Gegenstand des Vortrages von ANDREAS WÜST und DOMINIK HEINZ (Mannheim) war die politische Repräsentation von Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Sie differenzierten dabei die verschiedenen Ebenen des politischen Systems, die einzelnen Parteien sowie die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der politisch aktiven Migranten. INSA BREYER (Berlin und Amiens) verglich die staatlichen Maßnahmen gegenüber irregulären Einwanderern in Deutschland und Frankreich. In diesem Zusammenhang hob sie die unterschiedlichen Konnotationen der geläufigen administrativen Bezeichnungen („Illegale“ / “sans-papiers“) sowie die verschiedenen Praktiken der Legalisierungspolitik hervor. Der Gegenstand des Vortrages von CHRISTOPHE BERTOSSI (Paris) war die Bedeutung der „Ethnizität“ in der französischen Armee, die die empirischen und ideologischen Grenzen des republikanischen Integrationsmodells offen legt. PATRICK DOLLAT (Strasbourg) schloss mit seiner Erörterung der inhärenten Komplexität einer „europäischen Staatsbürgerschaft“ sowie deren Legitimation die Sektion ab.

Der 30. November wurde mit der von PATRICE POUTRUS (Potsdam) geleiteten Sektion „Fremdbilder in den Medien“ eröffnet. BARBARA SCHEITER (Tübingen) arbeitete in einer komparativen Betrachtung heraus, welch unterschiedlich großen Raum die Fremden in der deutschen und französischen Publikumspresse bis 1870 einnahmen und welches Bild des „Ausländers“ jeweils gezeichnet wurde. Während die Immigranten in Frankreich oft auch als aktive Teilnehmer am öffentlichen Leben dargestellt wurden, waren sie in Deutschland weitaus seltener Gegenstand der Berichterstattung und erschienen dort meist als rein administrative Kategorie. Die Darstellung von Alterität auf der Pariser Weltausstellung von 1867 war das Thema des Vortrages, mit dem VOLKER BARTH (Paris) einen weiteren Aspekt der Situation zur Zeit des Second Empire beleuchtete. Eine besondere Bedeutung kam dabei den hier erstmals aufkommenden Nationalpavillons zu. In diesen trat „das Fremde“ dem Besucher in erster Linie als eine Ansammlung von allgemein bekannten Symbolen entgegen. Gleichzeitig konstruierte die Ausstellung aber auch neue Symbole des Fremden, die widerspruchslos zu der Reihe schon bestehender Zeichen hinzugefügt werden konnten.

Die mediale Präsenz des „Fremden“ in der Zeit von 1950 bis 1984 analysierte YVAN GASTAUT (Nizza) am Beispiel der französischen Arbeitsmigranten. Diese standen für eine Alterität, die von der Mehrheitsgesellschaft zurückgewiesen wurde, und wurden als Verantwortliche für den Niedergang Frankreichs denunziert. Hieran schloss JULIEN GAERTNER (Nizza) an, der die Bilder türkischer Immigranten im deutschen Film mit den Bildern maghrebinischer Immigranten im französischen Film verglich. Dabei wurden aufschlussreiche Parallelentwicklungen deutlich. Nach einer Phase, in der das Thema der Arbeitsmigration kaum Beachtung fand, erhielt es in den 1980er-Jahren verstärkt Eingang in die Filmproduktion beider Länder. Ab der Mitte der 1990er-Jahre gelang es Filmen wie „La Haine“, in Frankreich ein breites Publikum anzusprechen, was Produzenten zu neuen Unternehmungen ermutigte. CEREN TÜRKMEN (Münster) fragte grundsätzlich nach dem Zusammenhang von Repräsentation, kultureller Identität und Distinktion in den Massenmedien und unterzog die von der weitläufigen Vorstellung einer „pleasures of hybridity“ geprägte Populärkultur einer hegemoniekritischen Analyse. BARBARA LAUBENTHAL und JÖRG-UWE NIELAND (Bochum) lenkten den Blick auf den deutschen Dokumentarfilm. Am Beispiel des Films „Am Rand der Städte“ der türkisch-stämmigen Regisseurin Aysun Bademsoy untersuchten sie die Repräsentation von türkischen Migranten, die nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland in der Türkei in eigenen Siedlungen leben und übertrugen so den in der Migrationsforschung etablierten Transnationalismus-Ansatz auf die Filmanalyse.

Mit der „Migrantenliteratur der zweiten Generation“ brachte MYRIAM GEISER (Mainz und Marseille) einen weiteren Bereich der Repräsentation in die Diskussion ein. Sie untersuchte die Rezeption und Selbstwahrnehmung von Gegenwartsautoren, die als Nachkommen von türkischen beziehungsweise maghrebinischen Einwanderern mit mehreren Kulturen aufgewachsen sind. Die Diskurse, die im Zusammenhang mit der Literatur der Postmigration entstehen, zeigen, dass auf der Rezeptionsseite der Alteritätsaspekt oft noch dominiert. Die Autoren selbst formulieren dagegen häufig den Anspruch auf Zugehörigkeit zur Mehrheitskultur oder fordern die Durchbrechung nationaler Kriterien im Sinne einer „Weltliteratur“.

Die Nachmittagssektion stand unter dem Titel „Identitäten, Selbstbilder und kollektiver Ausdruck“ und wurde von BERNHARD WALDENFELS (Bochum) moderiert. Den Auftakt bildete YVES BIZEULs (Rostock) Beitrag über das Bild des „Fremden“ im französischen und deutschen Republikanimus. Dieser beleuchtete die deutschen Integrationsdebatten sowie den Charakter und die Grenzen des französischen Integrationsmodells und plädierte für ein zivilgesellschaftliches Gesamtkonzept, das die Prinzipien der Selbstbestimmung achtet. MAREIKE KÖNIG (Paris) lenkte den Blick zurück in die Zeit des Krieges von 1870/71 und der III. Republik. Anhand der Festivitäten und des Vereinslebens der deutschen Einwanderer in Paris behandelte sie Fragen der Identität dieser Migrantengruppe und legte dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Behauptung und Verfestigung ihrer nationalen Selbstdefinition. Dem stellte sie den Wandel der Wahrnehmung und der Darstellung der Deutschen in Frankreich gegenüber. Identitätsbildungsprozesse von Menschen mit Migrationshintergrund in den 1990er-Jahren erläuterte BEATE COLLET (Lyon) in Hinblick auf die Türken in Deutschland und die Maghrebiner in Frankreich. Sie zeigte, wie sich in jedem nationalen Kontext bestimmte Formen herausbildeten, um die Existenzbedingungen als Immigrant der ersten oder zweiten Generation zu verarbeiten. Die Wechselbeziehung von nationaler Selbstdefinition und der Selbstbehauptung von Migranten war auch der Gegenstand des Beitrages von SOLINE LAPLANCHE-SERVIGNE (Paris) über den Kampf der „Minderheiten“ gegen den Rassismus in Frankreich und Deutschland seit 1980. VALENTIN RAUER (Konstanz) behandelte schließlich das Bild des „Fremden“ in migrationspolitischen Diskursen türkischer Dachverbände in Deutschland und zeigte auf, dass der Paradigmenwechsel von der „Ausländer“– zur Integrationspolitik in den letzten Jahren wesentlich durch die offiziellen Vertretungen der türkischen Community selbst mit geprägt worden ist.

In seinem Schlusswort betonte JEAN-ROBERT HENRY (Aix-en-Provence) noch einmal den Facettenreichtum und die Divergenz der Immigrationsgeschichten in Deutschland und Frankreich und ermutigte die mit dem Ausstellungsprojekt betrauten Wissenschaftler, sich des Themas mit all seiner aktuellen politischen Brisanz anzunehmen.

Die Tagungsbeiträge verdeutlichten in ihrer Gesamtheit den Perspektivenreichtum der aktuellen Forschung zum „Bild des Fremden“ in Frankreich und Deutschland. In der Vielfalt ihrer Ansätze und ihrer vergleichenden Perspektive reflektierten sie unmittelbar den tiefgreifenden Wandel, den die Gesellschaften beider Länder in den letzten Jahrzehnten durchlaufen haben, und zeichneten zum Teil konkrete Wege zu weiteren Forschungsunternehmungen vor.

Konferenzübersicht

Gérard Noiriel (École des hautes études en sciences sociales, Paris), Geschichte der Immigration in Frankreich
Dieter Gosewinkel (Freie Universität Berlin), Wandlungen der Staatsbürgerschaft in Deutschland und Frankreich (1870-2000)
Anne Klein (Universität Köln), Asyl, Antisemitismus und Solidarität: Konstruktionen des "Fremden" in den deutsch-französischen Beziehungen während der 1930er/40er Jahre
Yves Frey (Université de Haute - Alsace), Die Fremden und die Nation im Elsass seit Mitte des 19. Jhd.

Sektion 2: Politik und Verwaltungspraktiken

Vorsitz : Catherine Wihtol de Wenden (Centre d'études et de recherches internationales- Institut d'études politiques, Paris)
Marcel Berlinghoff (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg), Wendepunkte im Umgang mit Etrangers und Ausländern: Die Anwerbestopps in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland
Cyrine Hamida (Freie Universität Berlin / Université Paris VIII), Repräsentation ausländischer Arbeitnehmer im Diskurs zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in Frankreich und in Deutschland
Ewane Emilie Elongbil (Université Lyon II), Die Unterkunft von Immigrantenfamilien: Untersuchung der Politiken (1950-1975). Algerische Familien in Lyon, türkische Familien in Berlin (West)
Andreas Wüst / Dominik Heinz (Mannheimer Zentrum für Sozialforschung), Die politische Repräsentation von Migranten in Deutschland
Insa Breyer (Freie Universität Berlin / Université Jules Verne, Picardie), Wenn der oder die “Fremde” keine Papiere hat: "Irreguläre" Migrantinnen und Migranten in Frankreich und Deutschland
Christophe Bertossi (Institut français des relations internationales, Paris), Der Kampf gegen die Diskriminierung in der französischen Armee
Patrick Dollat (Institut d’études politiques - Université Robert Schuman de Strasbourg), Wer ist Fremder in der Europäischen Union? Staatsbürgerschaft und die Grenzen der Europäischen Union

Sektion 3: Fremdbilder in den Medien

Vorsitz: Patrice Poutrus (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam)
Barbara Scheiter (Universität Tübingen), Hinterhältige Regelungen. Die Rolle von Ausländern in der deutschen und französischen Publikumspresse des 19. Jhd
Volker Barth (École des hautes études en sciences sociales, Paris), Lebende Bilder des Fremden: Die Darstellung von Alterität auf der Pariser Weltausstellung von 1867
Yvan Gastaut (Université de Nice - Sophia Antipolis), Das Bild des algerischen Arbeitsmigranten in den französischen Medien: Die Konstruktion eines Sündenbocks (1950-1984)
Julien Gaertner (Université de Nice - Sophia Antipolis), Bilder türkischer Immigration im deutschen Film und Bilder der maghrebinischen Immigration im französischen Film. Eine vergleichende Analyse
Ceren Türkmen (Universität Münster), Repräsentation, kulturelle Identität und Distinktion in den Massenmedien
Barbara Laubenthal / Jörg-Uwe Nieland (Ruhr- Universität Bochum), "Die Leute hier sind nicht wie wir" - Transnationale Migranten im deutschen Dokumentarfilm
Myriam Geiser (J. Gutenberg Universität Mainz- Germersheim / Université de Provence Aix- Marseille I) : "Migrantenliteratur der zweiten Generation" oder "Littérature issue de l'immigration"- Rezeption und Selbstwahrnehmung deutsch-türkischer und Frankomaghrebinischer Autoren der Postmigration

Sektion 4: Identitäten, Selbstbilder und kollektiver Ausdruck

Vorsitz : Bernhard Waldenfels (Ruhr- Universität Bochum)
Yves Bizeul (Universität Rostock), Das Bild des "Fremden" im französischen und deutschen Republikanismus
Mareike König (Deutsches Historisches Institut Paris), Nationale Identität der Deutschen in Paris (1871 - 1914): Vereine, Feste und Publikationen
Beate Collet (Université Lumière Lyon 2), Türken in Deutschland, Maghrebiner in Frankreich. Der Prozess der Selbstdefinition von Menschen mit Migrationshintergrund in Frankreich und Deutschland
Soline Laplanche - Servigne (Institut d'études politiques, Paris), Der Kampf der Minderheiten" gegen den Rassismus in Frankreich und Deutschland seit 1980
Valentin Rauer (Universität Konstanz), Der "Fremde" in migrationspolitischen Diskursen türkischer Dachverbände in Deutschland

Schlusswort Jean-Robert Henry (Institut de recherche et d'études méditerranéennes sur le monde arabe - Centre national de la recherche scientifique)


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Published on
29.02.2008
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Regional Classification
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Conf. Language(s)
German
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