Kapital sei global, Arbeit lokal, sagt Manuel Castells. Deshalb gebe es keinen vereinheitlichten globalen Arbeitsmarkt und keine globale Erwerbsbevölkerung. Auch wenn hier sicher einige Ab-striche zu machen sind, ist doch unbestreitbar, dass die Globalisierung der Arbeitskraft der des Kapitals deutlich hinterherhinkt. Es bleibt die Frage, wie das Nachhinken in der Mobilität der Arbeit gegenüber jener des Kapitals zu erklären ist. Die orthodoxe Wirtschaftstheorie wie auch die neoliberale Wirtschaftspolitik haben danach selten gefragt. Bezogen auf die Arbeitskraft dach-te man zu allen Zeiten vorwiegend national-ökonomisch. Die Mutmaßung liegt nahe: So schreck-lich dysfunktional und ungewollt, wie orthodoxe Wirtschaftstheorie und neoliberale Wirtschafts-politik nahelegen, ist dieses Hinterherhinken gar nicht. Vor diesem Hintergrund werden im Heft Frage der Migration und Flucht, der Arbeits- und Lebenssituation, der rechtlichen und sozialen Situation in den Zielländern, der Dynamik transna-tionaler sozialer Räume, der Formation und Veränderung kollektiver Identitäten diskutiert
Inhalt:
Editorial, S. 3
Stephen Castles: Warum Migrationspolitiken scheitern, S. 10
Serhat Karakayali & Vassilis Tsianos: Mapping the Order of New Migration. Undokumentierte Arbeit und die Autonomie der Migration, S. 35
Helma Lutz: Der Privathaushalt als Weltmarkt für weibliche Arbeitskräfte, S. 65
Volker Hamann: Migration und wirtschaftliche Entwicklung: Die Investitionen der MigrantInnen aus Zacatecas, Mexiko, S. 88
Jens Winter: Transnationalisierung von Arbeitskonflikten Beispiele aus dem NAFTA-Raum, S. 107
Rolf Jordan: Das Geschäft mit der Arbeitsmigration in Malaysia, S. 134
Sabine Hess: Transnationale Räume: Widerständige soziale Sphären oder neue Form der globalen Zurichtung von Arbeitskraft? S. 151
Olaf Köppe: Migration, Wettbewerbsstaat und Europäisierung. Zur Verschärfung der Migrationspolitik in der Ära der Globalisierung, S. 172
George Steinmetz: Von der "Eingeborenenpolitik" zur Vernichtungsstrategie: Deutsch-Südwestafrika, 1904, S. 195
Kommentare
Reinhart Kößler: Keine Entschuldigung ohne Entschädigung, S. 228
Michael Ramminger: Wo liegt Davos? S. 229
Dokumentation
Wohin geht die Entwicklung? Zur Förderung entwicklungspolitischer Bildungsarbeit, S. 230
Offener Brief an den Evangelischen Entwicklungsdienst, S. 230
Rezensionen
Sydney Jones (2000): Making Money off Migrants. The Indonesian Exodus to Malaysia. Von Luciole Sauviat, S. 233
Maggi Wai-Han Leung: Chinese Migration in Germany. Making Home in Transnational Space. Von Ton van Naerssen, S. 235
Richard Rottenburg: Weit hergeholte Fakten. Eine Parabel der Entwicklungshilfe. Von Reinhart Kößler, S. 236
Eingegangene Bücher, S. 238
Summaries, S. 241
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 246
Impressum, S. 256
Editorial
Weltmarkt für Arbeitskräfte
Kapital sei global, Arbeit lokal, sagt Manuel Castells. Deshalb gebe es keinen vereinheitlichten globalen Arbeitsmarkt und keine globale Erwerbsbevölkerung. Auch wenn hier sicher einige Abstriche zu machen sind, ist doch unbestreitbar, dass die Globalisierung der Arbeitskraft der des Kapitals deutlich hinterherhinkt - und zwar nicht nur (was trivial ist) im Hinblick auf die globalen Finanzströme, sondern auch im Hinblick auf das industrielle Kapital. Während der Anteil der grenzüberschreitenden Beteiligungen und Obligationen in den Kernstaaten des kapitalistischen Weltsystems in den 1990er Jahren allüberall in der gleichen Größenordnung lag wie das Bruttoinlandsprodukt, betrug der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte in keinem von ihnen deutlich mehr als zehn Prozent. Das ist sicher eine beachtliche Größenordnung; und insofern ist die Rede von einer internationalen Konkurrenz für Arbeitskräfte auch alles andere als abwegig. Doch ein extremer Ausreißer nach oben ist dies in der Geschichte des Kapitalismus mit Sicherheit nicht - man denke nur an die massenhafte Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika, nach Südamerika und in die Siedlungskolonien im 19. und frühen 20. Jahrhundert, aber auch an die polnische Arbeitsmigration nach Ostelbien und ins Ruhrgebiet, die (größtenteils unfreiwillige) indische Migration nach Süd- und Ostafrika, nach Westindien und in den Pazifischen Ozean, die Arbeitsmigration zum Eisenbahnbau in den USA aus China und Japan, koloniale Kontrakt- und Wanderarbeitssysteme, zuvor schon den transatlantischen Sklavenhandel und vieles andere mehr. Auch die Deportation von Millionen von ArbeitssklavInnen durch das NS-Regime und die ebenfalls massenhafte Rekrutierung von Zwangsarbeit für den stalinistischen Gulag bildeten zentrale Komponenten im Migrationsgeschehen des 20. Jahrhunderts.
Es bleibt die Frage, wie das Nachhinken in der Mobilität der Arbeit gegenüber jener des Kapitals zu erklären ist. Die orthodoxe Wirtschaftstheorie wie auch die neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf der prinzipiellen Ebene stets die Notwendigkeit der uneingeschränkten Mobilität sämtlicher Produktionsfaktoren für das optimale Funktionieren des marktwirtschaftlichen Systems zu predigen und zumindest die Nicht-OECD-Staaten für jedes Abweichen von diesem Prinzip auf Seiten des Kapitals auch zu verdammen bzw. abzustrafen pflegen, haben sich an den Abweichungen auf Seiten der Arbeitskraft erstaunlich wenig gestört. Hier dachte man zu allen Zeiten vorwiegend national-ökonomisch. Die Mutmaßung liegt nahe: So dysfunktional und ungewollt sind diese Abweichungen gar nicht. Aber auch die mit hohem Aufwand betriebenen Grenzkontrollen verhindern Migration von Arbeitskräften nicht, nicht nur an der kalifornischen US-mexikanischen Grenze waren die Grenzkontrollen lange montags auffallend ungenau. Warum also scheitern Migrationspolitiken? Stephen Castles konstatiert im ersten Beitrag zum vorliegenden Heftschwerpunkt, dass die Kontrolle von vor allem irregulärer Migration umso weniger erfolgreich zu sein scheint, je mehr die Staaten in diese Kontrolle investieren. Damit ist nicht gesagt, dass staatliche Politiken ohne Bedeutung und Wirkung sind, vielmehr sind die globalen Migrationsbewegungen derart sperrig und eigendynamisch und die Politiken von sich widerstreitenden Interessen durchsetzt, dass die strickmustergleiche Politik der Restriktion und Repression nicht funktionieren kann. Migrationskontrollpolitiken dienen dazu, so Castles, die Nord-Süd-Beziehungen zu regulieren und die globale Ungleichheit aufrechtzuerhalten.
In unterschiedlicher Weise stellt sich die Frage nach dem Scheitern, der Intentionalität von Migrationskontrollpolitiken und der Rolle der MigrantInnen als Subjekte auch allen anderen AutorInnen des Heftes. In diesem Sinne geht Rolf Jordan den Ursachen der widersprüchlichen Migrationspolitik in Malaysia nach. So sagt die Regierung regelmäßig, kurz nachdem Hunderte ausländischer ArbeiterInnen ohne gültige Papiere verhaftet und abgeschoben werden, spezifischen Sektoren neue ausländische Arbeitskräfte zu, so etwa 2002 dem Bausektor 30.000 ArbeiterInnen aus Indonesien. Das Beispiel Malaysia veranschaulicht einige der von Castles eingangs benannten Faktoren der widersprüchlichen Migrationspolitik: Innerhalb der staatlichen Institutionen, Zentral- und Bundesstaaten und verschiedenen Branchen herrschen unterschiedliche Interessen vor, die - legale wie irreguläre - Migration entweder verhindern oder fördern. Zudem gelang eine Umstrukturierung der Wirtschaft nur ansatzweise, so dass weiterhin arbeitsintensive Sektoren bestehen. Jordan zeigt weiter auf, dass sich ein eigener migrationsbezogener Wirtschaftssektor etabliert hat, an dem der Staat durch Steuern, Visa- und Verwaltungsgebühren und ein privater Dienstleistungssektor zur Organisierung legaler wie illegaler Migration verdienen.
Mit ökonomischen Effekten von Migration auf einer anderen Ebene befasst sich Volker Hamann. Er diskutiert die entwicklungspolitisch kontroverse Frage, ob und inwiefern die Rücküberweisungen, die ArbeitsmigrantInnen in ihre Herkunftsregion tätigen, zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Am Beispiel der Investitionen von in den Vereinigten Staaten lebenden MexikanerInnen in den Bundesstaat Zacatecas argumentiert er, dass Transferzahlungen ohne Zweifel einen positiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum der Empfängerregionen haben, auch konsumtive Investitionen zeigten Multiplikatoreffekte. Ohne begleitende Maßnahmen zur Überwindung von Infrastrukturdefiziten sei es jedoch vermessen, sämtliche Impulse zur langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung von den MigrantInnen zu erwarten.
Die Mobilität von Arbeitskräften und politisch-ökonomische Integrationsprozesse führen zu vielfältigen Konfliktkonstellationen. So steht die Veränderung von Arbeitskonflikten im Zentrum des Beitrags von Jens Winter. Anhand zweier Konflikte - Repressionen gegen eine unabhängige Gewerkschaft in Mexiko und Diskriminierungen von undokumentierten ArbeitsmigrantInnen in den Vereinigten Staaten - zeigt Winter auf, inwiefern Beschwerdeverfahren, die im Nebenabkommen zu Arbeitsbeziehungen der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) enthalten sind, ein Instrument zur transnationalen Allianzbildung zwischen AkteurInnen in den USA, Kanada und Mexiko darstellen können. Das Beschwerdeverfahren begünstigte qualitativ neue Formen der Kooperation von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, und die Konflikte gelangten in die öffentliche Debatte. Die Regierungen ließen jedoch die Auseinandersetzungen auf diplomatischer Ebene versanden, und aufgrund der Freihandelsorientierung ist nicht zu erwarten, dass es auf dem Feld der Arbeitspolitik für AkteurInnen wie (undokumentierte) MigrantInnen und unabhängige Gewerkschaften tatsächliche Erfolge gibt. Winter argumentiert, dass keine einfache Verschiebung, sondern eine Vervielfachung und Verkomplizierung der räumlichen Bezüge sozialer Auseinandersetzen zu erkennen ist, deren Ergebnisse nicht linear vorhersehbar sind.
Als MigrantInnen sind viele Millionen von Menschen aus dem globalen Süden, aus den ehemals realsozialistischen Ländern, aber auch aus den Randgebieten der Kernstaaten je nach aufenthaltsrechtlichem Status und ökonomischer Position zu existenzieller Ungesichertheit verurteilt und müssen damit zurecht kommen. Dies tun sie in sehr verschiedener Art und Weise. Dabei spielt sicher eine Rolle, dass sich in der Migration persönliche Entscheidung und strukturelle Zwangssituationen vielfältig überschneiden. Es gehört Initiative dazu, einer Notlage zu entkommen und sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Manche erreichen "Normalität" - oder versuchen sie zu erreichen - dadurch, dass sie sich anpassen und auf die Anerkennung durch die "Einheimischen" hoffen. Andere versuchen es durch ethnischen, nationalen oder religiösen Zusammenschluss und mehr oder weniger weit gehende Abkapselung nach außen. Wieder andere versuchen es durch ein Sich-Einrichten in einem lebenslangen Hin- und Herwechseln zwischen unterschiedlichen Gesellschaften oder durch die Schaffung und Nutzung von transnationalen sozialen Räumen. Viele leben dennoch in ständiger Angst vor dem Aufgegriffen- und Ausgewiesenwerden durch die Polizei wie vor schamloser Ausbeutung durch ArbeitgeberInnen und VermieterInnen, ja sogar vor Denunziation durch SchicksalsgenossInnen.
Gleich drei Beiträge kreisen um diesen Problemkomplex der Illegalisierung, der prekären Rechtsstellung und der Handlungsfähigkeit von MigrantInnen. Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos plädieren dafür, die Praxen der MigrantInnen in der migrationstheoretischen Diskussion stärker einzubeziehen. Sie zeigen auf, wie das Verhältnis von Migration, Ökonomie, Staat und Subjekten zum gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem in Europa die Figur des "Gastarbeiters" und des "Flüchtlings" von der des "Sans Papiers" abgelöst wurde, neu zu denken sein könnte. Ihr Anliegen besteht darin, die System- oder Ökonomiezentriertheit von Theorien zu überwinden, in der die MigrantInnen oft nur als Objekte gedacht werden, die von A nach B verschoben werden oder ökonomischen Kräften folgen. Karakayali & Tsianos schlagen ein spezifisches Verständnis des Konzeptes "Migrationsregime" vor, in dem eine Vielzahl von AkteurInnen einbezogen wird, ohne sie einer zentralen Logik unterworfen zu sehen. Die Kräfteverhältnisse bestimmen, inwiefern Migration reguliert und die MigrantInnen ausgebeutet werden. Zu betonen ist, dass durch Ausbeutung nicht die Subjektivität der MigrantInnen ausgelöscht wird, sondern genauso Bestandteil des Migrationsregimes ist, wie Interessen von Staaten und Unternehmen. Diese Aspekte vertiefen die Beiträge von Helma Lutz und Sabine Hess, indem sie sich einem Sektor zuwenden, der für die Feminisierung der Migration eine zentrale Bedeutung besitzt, dem der Haushalts- und Pflegedienstleistungen sowie der Tätigkeiten von Au-Pairs. Beide Autorinnen setzen sich mit der migrationstheoretischen Diskussion um Transnationalisierung auseinander und bringen die Vergeschlechtlichung von Migration und den Erwerbsarbeiten von Migrantinnen konzeptionell in die Diskussion ein. Helma Lutz plädiert dafür, das Konzept transnationaler Räume trotz berechtigter Kritik als ein multi-perspektivisches Raumkonzept weiter zu entwickeln. Sie blickt zurück auf die seit den 1970er Jahren geführte und immer noch aktuelle feministische Diskussion um Hausarbeit und Liebe oder "emotionale Arbeit". An dem Phänomen, dass Reproduktionsarbeiten in erster Linie von Frauen, "einheimischen" wie zugewanderten, verrichtet werden, hat sich in den letzten Jahrzehnten wenig geändert. Das Outsourcing von Haushaltsarbeit an Migrantinnen führt nach Einschätzung von Lutz, die auch die ArbeitgeberInnenperspektive analysiert, zur Fortschreibung alter Identitätsmuster und zur Aufrechterhaltung geschlechts-traditioneller Verteilung von Arbeit, die zusätzlich ethnisiert wird. Ob Migration zur Verfestigung und/oder zum Aufbrechen alter Muster und Abhängigkeiten führt, ist eine der zentralen Diskussionslinien in der Migrationsforschung. Sabine Hess versucht in ihrem Beitrag am Beispiel von Au-Pairs, die zwischen der Tschechischen Republik und Deutschland pendeln, zu ergründen, ob transnationale soziale Räume widerständige soziale Sphären sind, die den Frauen neue soziale und berufliche Chancen ermöglichen oder ob sie die aktuelle Form der globalen Zurichtung von Arbeitskraft darstellen. Damit führt sie die von Castels, Karakayali & Tsianos und Lutz in diesem Heft bereits aufgeworfenen Diskussionen um die Wirkungen von Migrationskontrollpolitiken und um transnationale Räume fort. Hess argumentiert, dass die Funktion restriktiver Migrationskontrollen nicht die Abschottung, sondern die partielle Durchlässigkeit ist, die zur Hervorbringung transnationalisierter, flexibler und prekarisierter Subjekte führt. Die Migrantinnen selbst entwickeln in diesem vermachteten Terrain Taktiken, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Diese Taktiken, wie die regelmäßige Ein- und Ausreise und das Bereithalten von plausiblen Erklärungen für den häufigen Grenzübertritt, sind jedoch kein Ersatz für einen legalen Aufenthaltsstatus und Rechte.
Ein weiterer Schwerpunkt ist der Themenkomplex "Rechts- und Wohlfahrtsstaat und Migration". Schon aus Gründen der Loyalitätssicherung kann es sich kein Staat leisten, die wie auch immer begrenzten und gefährdeten wohlfahrtsstaatlichen Elemente vollständig wieder abzuschaffen. Aber andererseits machen es eben diese Elemente gänzlich oder in erheblichem Maß unmöglich, die Lohnentwicklung durch Rückgriff auf eine einheimische industrielle Reservearmee, die ohne Rücksicht auf Arbeitsschutzgesetzgebung und Sozialversicherungspflicht heute geheuert und morgen gefeuert werden kann, zu kontrollieren. Der allseits willkommene Ausweg sind ausländische Arbeitskräfte mit mehr oder weniger prekärem Rechtsstatus. Der entscheidende Punkt ist dabei, wie die Beiträge von Karakayali & Tsianos, Jordan, Lutz und Hess veranschaulicht haben, dass der prekäre Rechtsstatus jener Arbeitskräfte erhalten bleiben muss, wenn das System funktionieren soll. Sie müssen zwar angelockt werden, aber ihre Rechtsstellung darf niemals die gleiche sein wie die ihrer KollegInnen aus den Kernstaaten; andernfalls ginge ihr spezifischer Nutzen verloren. Hinzu kommt der schleichende, im aktuellen newspeak als "Reform" bezeichnete Abbau sozialer BürgerInnenrechte. Diese Prozesse unterstreichen die alte Einsicht, dass die Konkurrenz unter den Arbeiterinnen und Arbeitern das primäre, mühsam aufzubauender Solidarität vorausgehende Moment ist. Dabei ist die Einschätzung, ob MigrantInnen im Rahmen von Europäisierung und Internationalisierung zunehmend mehr oder weniger Rechte zugestanden werden, in der sozialwissenschaftlichen Diskussion seit Längerem umstritten. Einige AutorInnen sehen insbesondere in der Europäischen Union eine post-nationale Entwicklung im Gange, in der Personen unabhängig vom Staatsbürgerschaftsstatus mehr Rechte zugewiesen werden. Olaf Köppe analysiert die Entwicklung für die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union. Er kommt dabei zum gegenteiligen Ergebnis: Die Inanspruchnahme sozialer Rechte, vor allem wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, und "bürgerliche" Rechte wie Familiennachzug werden sogar zunehmend stärker an den Staatsbürgerschaftsstatus gekoppelt, die Mitgliedschaftslogik verliert somit nicht an Bedeutung. Diese Entwicklung liegt laut Köppe in der Ausrichtung des Staates als nationalem Wettbewerbsstaat begründet. Unter dem selbst gesetzten Diktat der Wettbewerbsfähigkeit werden auch die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gegenüber Nicht-Mitgliedern stärker rationiert und über "bürokratische Auslesemechanismen" realisiert.
Diese wenig optimistische Einschätzung am Ende des Schwerpunktes zum "Weltmarkt für Arbeitskräfte" führt noch einmal die Klammer des gesamten Heftes vor Augen: wie eng der Zusammenhang von ökonomischer und politischer Sphäre für Migrationsbewegungen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der MigrantInnen sind. Transnationale soziale Räume - seien es die alltagsbezogenen von MigrantInnen geprägten oder wie im Fall der NAFTA durch zwischenstaatliche Regulierungen entstandenen - stellen neue und vielschichtige Aushandlungsräume dar, die nationalstaatliche Relevanz lässt sich bei dem Thema der Migration jedoch nicht wegtheoretisieren. Dies führt auch die Anfang 2005 heiß geführte politische Debatte um den "Missbrauch" und die "Großzügigkeit" von Visaerteilungen durch das Auswärtige Amt in die Bundesrepublik Deutschland vor Augen. Der Bundesausländerbeirat machte in einer wenig beachteten Presseerklärung auf die bittere Erfahrung selbst von MigrantInnen aufmerksam, die mit einem sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland leben und erkennen müssen, wie schwierig es ist und immer schon war, Familienangehörige einzuladen. "Im Zweifel gegen die Reisefreiheit", dies wissen auch die meisten VisaantragstellerInnen in die Europäische Union weltweit zu berichten. Die über den konkreten Fall der deutschen Botschaft in Kiew verallgemeinert geführte Diskussion um den "massenhaften Missbrauch" von Visa lässt in der medialen Öffentlichkeit die Perspektive von MigrantInnen vergessen. Ausgeblendet wird auch, dass es für viele Personen keine legalen Migrationswege mehr gibt und viele ihr Glück mit Hilfe der überall ihre Dienste anbietenden "Migrationsindustrie" versuchen, in Malaysia ebenso wie in Mexiko und der Ukraine, d.h. gefälschte Papiere kaufen, GrenzbeamtInnen bestechen und sich auf die oft gefährliche Reise des illegalen Grenzübertritts machen. Migration und MigrantInnen werden in der aktuellen Diskussion in Deutschland wieder einmal mit den Themen Sicherheit und Kriminalität verquickt. Zu dieser für eine offenere Migrationspolitik ungünstigen Konstellation trägt auch die Form der Bearbeitung des Themas "Frauenhandel" bei. Der Bundesaußenminister wird "Zuhälter" und "Menschenhändler" genannt, die christdemokratische Opposition geriert sich als Retterin der ausgebeuteten Frauen. Nicht nur versuchen die Fachberatungsstellen von Opfern des Frauenhandels verzweifelt Gehör zu finden für ihre Feststellung, dass keinerlei Anstieg des Frauenhandels aus der Ukraine zu verzeichnen ist, auch die Argumentationsfigur ist so alt wie heuchlerisch und aus der Rechtfertigung von Kolonialismus wie auch von Interventionskriegen in Jugoslawien und Afghanistan bekannt. Allerdings scheint auch bei der rot-grünen Regierungskoalition die Frage durch: Nützen oder schaden die sich in Deutschland aufhaltenden MigrantInnen deutschen Interessen? Wir hoffen, dass dieses Doppelheft dazu beiträgt, die Diskussion um Migration, Ökonomie, Staat und Geschlechterverhältnisse auf einer theoretisch wie gesellschaftspolitisch reflektierteren Ebene zu führen.
Hundert Jahre nach dem Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika ist es im Erinnerungsjahr 2004 endlich gelungen, dem Vergessen gegenüber diesem in die Verantwortung des deutschen Staates fallenden Großverbrechen zumindest ein wenig entgegenzuwirken. Dabei spielt nach wie vor die Frage nach dem Verhältnis dieses Völkermordes zum industriellen Massenmord des Holocaust im Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle. George Steinmetz leistet hier einen innovativen Beitrag, wenn er von dem Ereignis nicht zeitlich nach vorn schaut, sondern in erster Linie retrospektiv, d.h. kausal rekonstruierend argumentiert und vor allem nach Dispositionen und Motivationen der Täter fragt. Er zieht dafür Materialien, aber auch Gesichtspunkte wie das damals zur Verfügung stehende ethnographische Repertoire oder psychoanalytische Überlegungen heran, die in der bisherigen Diskussion noch nicht berücksichtigt wurden. Hinzu kommt eine vergleichende Sicht auf die Verhältnisse in unterschiedlichen deutschen Kolonien. Wenn einige der Thesen von Steinmetz - zumal zum "deutschen Sonderweg" - Stoff für Kontroversen bieten dürften, so unterstreicht der Beitrag auch, dass es sich lohnt, diese Kontroversen zu führen.
Reinhart Kößler nimmt in seinem Kommentar "Keine Entschuldigung ohne Entschädigung" die Problematik des Völkermordes in Namibia auf und wirft ein Schlaglicht auf die aktuelle Erinnerungspolitik sowohl in Deutschland als auch in Namibia. Michael Ramminger gibt in einem weiteren Kommentar eine Einschätzung des diesjährigen Weltsozialforums, das Ende Januar 2005 im brasilianischen Porto Alegre stattfand.
Mit einem Schreiben vom 7. 1. 2005 hat der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) mit sofortiger Wirkung die Förderung der Peripherie eingestellt. Der kirchliche Geldhahn wurde auch anderen Projekten abgedreht, so dem Bundeskoordination Internationalismus, den Lateinamerika Nachrichten und dem Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit München. Bereits seit 2003 erhalten die Blätter des iz3w keine Förderung mehr. Diese Entwicklung stellt uns vor die auch für das Erscheinen der Peripherie existenzielle Frage nach der Finanzierung entwicklungspolitischer Arbeit. Aus diesem Anlass dokumentieren wir einen offenen Brief der Redaktion an den EED.
Für die Jubiläumsausgabe Nr. 100 der Peripherie "100 Peripherien - die Welt von den Rändern her denken" laden wir herzlich dazu ein, sich mit kurzen Beiträgen (bis zu 10.000 Zeichen) zu beteiligen. Da wir die Form dieser Beiträge ausdrücklich offen gestalten wollen, haben wir für diese Ausgabe das GutachterInnen-Verfahren ausgesetzt. Auf der Grundlage der 100. Peripherie soll am 11. Februar 2006 in Berlin eine festliche Tagung stattfinden, auf die wir ebenfalls bereits jetzt hinweisen wollen. Weitere Informationen ebenso wie die aktuellen Call for Papers zu den Heften 100 "100 Peripherien - die Welt von den Rändern her denken" und 101/102 "Eigentumsrechte" finden sich wie immer im Internet auf unserer Homepage unter www.zeitschrift-peripherie.de.
Summaries
Stephen Castles Why Migration Policies fail
Immigration and asylum are key political issues in Britain and the European Union. Yet the policies of states and supranational bodies seem to have had little success in preventing unwanted flows and effectively managing immigration and integration. This article examines three types of reasons for policy failure: factors arising from the social dynamics of the migratory process; factors linked to globalization and the North-South divide; and factors arising within political systems. Key issues include the role of migrant agency, the way the North-South divide encourages flows, and hidden agendas in national policies. EU efforts attempts to address the root causes of migration in countries of origin are discussed. The article concludes that migration policies might be more successful if they were explicitly linked to long-term political agendas concerned with trade, development and conflict prevention. Reducing North-South inequality is the real key to effective migration management.
Serhat Karakayali & Vassilis Tsianos Mapping the Order of New Migration. Undocumented Labour and Autonomy of Migration
Migration studies tend to oscillate between pure descriptivism and strong theory. Until today theories of migration either explicitly or implicitly refer to neoclassical presumptions on labour markets or tend to proliferate funcionalist ex-post concepts. So do theories of migration systems overemphasize the primacy of political and economical structures over collective and individual ageny of migrants. The paper argues that a shift in theoretical perspectives is linked the settings in the political arena of migration. Epistemological barriers are relate to political ones, this relation is condensed in certain figures of migration. One of the leading figures of current migration is the "illegal migrant". The paper tries to grasp how illegal migration is related to changing patterns of work and production and whether the concept of a migration regime would be more appropriate to understand the ongoing processes, since it focusses on agency rather than on systemic logic.
Finally the paper aims at exploring if migration can be conceived as a social movement. In this regard, the programmatic concept of the autonomy of migration is significant, because it looks for a political perspective over the questions of exodus and flight that are stake in global migration today. The paper claims that the comprehension of the relation of flight and immobilization demands both historically and actual a shift of paradigms in migration politics and theory. The concept of migration regime can help here as it puts agency, namely the struggles of migration in the foreground of any understanding of migration.
Lutz, Helma The Private Household as global Market for female Workers
This article deals with a recent phenomenon: over the last decades a new global labor market for female migrants has been established. Women from Asia, Africa and Eastern Europe come to work in the households of affluent countries, among them German ones. Domestic work is not only a site of the feminization of migration, but also a part of the reconstruction of social inequalities on a global scale. Starting by discussing the factors promoting the feminization of migration in connection with the demand for domestic workers in German households, the article then describes the character of the work area and the differences between domestic work and other work sectors. After discussing the state of double illegality which forces many domestic workers to live a life in the twilight zone, the concept of transnational migration is connected to the transnational biographies of these workers. The main argument of the article is that domestic work can be understood as a paradigm for the new structure of relations of dependency in global perspective and on a global scale.
Volker Hamann Migration and economic Development: the Investment of Migrants from Zacatecas, Mexico
The question remains, whether migration and remittances may - through migrant investment - induce a sustainable economic development in the sending regions, or cause even higher degrees of dependence on the transfer payments. This problem is analyzed by the example of Zacatecas, Mexico, the state that shows the highest emigration ratio and the highest amount of remittances per capita. Remittances can be either used for consumption or for investment; the latter may be divided into microeconomic and social investment. Consumption benefits the region by multiplier effects, microeconomic investment creates local income and social investment may be used to improve the infrastructure. Political programs to channel more resources into investment have not given the expected results.
As labor migration is the result of a lack of economic opportunities it cannot be the migrants task to make up for structural deficits. Political programs are needed to overcome the reasons for underdevelopment and to support the emergence of production chains.
Jens Winter Transnationalization of Labour Conflicts - Experiences from NAFTA
After sketching out some aspects of the transformed 'postfordist' contradictions in the field of labour regulation, the article will examine two typical examples of transnationalized labour conflicts. Both are localized in the NAFTA-area, using - among other forms of activity - a new multilateral and, therefore, prototypical institutional form, the 'North American Agreement on Labor Cooperation'. The first case refers to oppressive practices against independent trade unions in an export orientated plant in Mexico during an organisation campaign. It was taken up for a campaign by the broadest transnational coalition of trade unions and NGO. The second one concerns a similar occasion - this time in the USA. Yet, the specific dynamic of that conflict derives from discriminatory practices against migrant workers. Finally, it's is argued that it's not ingenious to look for any 'idealtypical' characterisation of those conflicts. Rather the multitude of the spatial contexts as well as the heterogeneity of actors and its specific strategies indicate a qualitative transformation in another sense. It is the spatial dispersion and the heterogeneization of social conflicts in 'postfordism' which characterize the contemporary situation and which challenge political practice as well as critical theory.
Rolf Jordan The Business of Labour Migration in Malaysia
Malaysia has long been an importer as well as an exporter of labour. There are more than 2 Million labour migrants in Malaysia today with nearly half of them being undocumented migrants, mainly from neighbouring Indonesia. The influx of this large number illegal migrant labour into the country has long been seen as a major problem by governnemt officials resulting in a couple of policy measure to uncover and repatriate illegal migrants throughout the country. Different government operations had been carried out since the eraly 1990s culminating in mass expulsion of illegal migrants in 2002. The article is aimed to set these government policies in the wider context of Malaysia's economic development of export-oriented industrialization arguing that illegal migration is as much part of its labour market as is the legal influx of labour migrants. The often contradictory measures aimed at the problem of illegal migrationcan be traced back to the different economic interest that characterize this field of policies.
Sabine Hess Transnational Spaces: Spaces of Resistance or a new Mode of global Appropriation of Labour
Starting from a multi-sited research on migration strategies of Eastern European women to Germany, Sabine Hess shows that since the end of the cold war highly mobile, transnational fields have been emerged in Europe. On the other hand, critical scholars point out that the restrictive migration policies in and of the European Union can be described as a "fortress europe", sealing off the EU against unwanted migration. Normally these two findings are taken as contradiction. An anthropological position takes the transnationalisation of migration as a proof that migrants are creative rebels of a globalisation from below. On the other hand, the "fortress europe"-position comes to the conclusion that the EU migration policies are apparently not working. But Hess argues that these two phenomena are not to be taken as a contradiction, rather transnationalisation can be understood as an intentional effect of the restrictive border regime. By following the ways of migrant women and their decision-making she can demonstrate the interconnections with the rigid migration policies which still exist even in the attempts of the migrants to circumvent them. But the classical conceptualisation of the functioning of the border cannot grasp these relations and thus have to be changed in favour of a Foucaultian reading of the border as a biopolitical space. In the end, transnational practices can be regarded as a creative strategy by migration to come to terms with the difficulties and uncertainties in the migrational context. But by the same token they are a strategy which is totally suitable to the political and economic needs of the new flexible mode of production of the western countries.
Olaf Köppe Migration, Competition State and Europeanisation: About the Aggrevating of Migration Policy in the Era of Globalisation
The article deals with issues of migration and migrant rights in Germany and Europe. Even if many scholars have elucidated with convincing clarity that Western nation states can improve migrant's rights due to the autonomy of the legal system, this paper's focus is to point out a cotemporary opposite process. Because of the transformation of the former welfare states to 'competition states' migration policies are now likely subsumed under the principle of competitive advantage. In this article I reaffirm that steering migration process has to be understood still in terms of the nation state and the economic conditions of these states.
George Steinmetz From "Native Policy" to Exterminationism: German Southwest Africa, 1904
This paper examines the transition from colonial "native policy" to a program of deliberate genocide, directed against the Ovaherero and Witbooi peoples, in German Southwest Africa. The German assault during and after the 1904 war was the first genocide of the 20th century, and was unusual among colonial powers at that time. The legal definition of genocide does not present an interpretive barrier, since the decision to exterminate the Ovaherero was intentional and approved at the highest levels of the German government. This points back to the "Sonderweg" thesis: was German colonialism not, after all, exceptionally exterminationist?
The paper then asks about the reasons for this escalation of violence. The first necessary (but not sufficient) condition was the extant body of ethnographic representations of Ovaherero. In contrast to precolonial images of other German colonized subject populations (including the Witbooi), this discursive formation was extremely homogenous and relentlessly demonizing. The second factor relates to the structure of the colonial state field. The symbolic class conflict between the main fractions of the German elite - nobility, economic bourgeoisie - and educated middle class - Bildungsbürgertum - was transposed to the German colonies. The struggle between the middle class colonial Governor Theodor Leutwein and the man sent to replace him in the 1904 war, General Lothar von Trotha, assumed the epic proportions of the metropolitan Wilhelmine battle between bourgeoisie and aristocracy. Both parties were driven to more extreme positions, representative of their respective social classes' symbolically dominant stances within the colonial field. Leutwein became more "humane" and anti-genocidal, while von Trotha identified paradoxically with an imago of the barbaric and "indescribably cruel" Ovaherero.