Zeitschrift für Weltgeschichte 17 (2016), 1

Title 
Zeitschrift für Weltgeschichte 17 (2016), 1
Other title information 
Indien

Published on
München 2016: Martin Meidenbauer
Frequency 
zweimal jährlich
ISBN
1615-2581
Price
Jahrespreis € 49,90 ; Einzelpreis € 29,90

 

Kontakt

Organization name
Zeitschrift für Weltgeschichte
Country
Germany
c/o
Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte Bullerbachstr.12 D-30890 Barsinghausen Tel +49 5105 64 332
By
Bertram, Michael

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ― von manchen als das "Asiatische Jahrhundert" bezeichnet ― ist die global history zurecht zunehmend fokussiert auf Entwicklungen in den asiatischen Teilen der Welt. Während China als "global player", wenn auch noch nicht als globale Supermacht, im letzten Jahrzehnt ein Thema für die Forschung gewesen ist und auch mediales Interesse auf sich gezogen hat, betrachtet man Indien, seinen "Juniorrivalen" in Asien, nur am Rande und auf mit Stereotypen behaftete Weise. Aber der indische Subkontinent verdient sicherlich ernsthafte Aufmerksamkeit von Globalgeschichtlern: ein Desiderat, das durch dieses Themenheft der Zeitschrift für Weltgeschichte bekräftigt wird. Dieser Vorstoß kann, angesichts der speziellen Anziehungskraft Indiens für die deutschsprachige Welt seit der frühen Neuzeit als logische Erneuerung der seit langem bestehenden intellektuellen Beschäftigung gesehen werden. Paradigmatisch für das neu erwachte Interesse steht der 51. Historikertag im September 2016, der in Partnerschaft mit Indien durchgeführt werden wird. Eine lobenswerte Zusammenarbeit, die ein wegweisendes Projekt des Deutschen Historikerverbands mit Historikern eines nicht-westlichen Staates darstellt.

Indien ist sicherlich eine angemessene Wahl: demographisch (mit einem Sechstel der Weltbevölkerung), historisch (mit einer bis ins 7. Jahrtausend v. Chr. zurückreichenden Geschichte) und soziokulturell (mit Blick auf sein multireligiöses, pluri-ethnisches Erbe, bildet der indische Subkontinent ein beachtliches, komplexes und buntes Kaleidoskop, worin speziell die Historiographie, teils aufgrund ihres kolonialen Vermächtnisses, ein dynamisches und sich ständig erweiterndes Forschungsfeld bietet.

Folglich hat das Herausgeben dieses Hefts sich zugleich als Herausforderung und Chance erwiesen: Über die Vermittlung von 10 ausgewählten Essays wird der Versuch gewagt, den LeserInnen ein grundlegendes, interdisziplinäres und vielfältiges Verständnis sowohl von historischen Prozessen als auch von bedeutenden politisch bedingten Faktoren zu geben, die in Indiens Gesellschaft, gesetzge-benden Institutionen und Wirtschaft am Werk sind. Somit war das Ziel nicht, einen thematisch kohä-renten Korpus von Texten zu bieten, sondern durch eine bunte Auswahl verschiedene Perspektiven auf relevante (und oft kontrovers diskutierte) zu liefern, innerhalb Indiens sowie außerhalb im Rahmen des internationalen wissenschaftlichen Diskurses. Um eine synergetische, vielgestaltige Perspektive zu erreichen. wurden Beiträge von Wissenschaftlern aus Indien um Artikel von ausgewählten deutschen Fachkollegen ergänzt. Die Beiträge sind in einer flexiblen Chronologie angeordnet, beginnend in der Frühen Neuzeit und bis in die Gegenwart reichend, wobei der erste Block von fünf Beiträgen umfangreiche Ausführungen zur Sozial- und Kulturgeschichte, Religion, Sprache und intellektueller maritimer Verflechtung enthält, und dem gegenübergestellt im zweiten Block kurze prägnante Texte zum Familienrecht, der Rolle indischer Frauen in der Gesellschaft, sowie aktuellen rechtswis-senschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Fragestellungen folgen.

Der erste Beitrag von Faisal Devji (St. Anthony´s College, Oxford), einem Historiker des modernen Indiens, Pakistans und der muslimischen Welt, bietet einen einleitenden Überblick über Indien als Staat wie auch als Zivilisation. Devji hebt hervor, wie diese Weltregion tief beeinflusst durch den Ko-lonialismus bleibt, ungeachtet der Tatsache, dass dieses sogenannte pedagogic project durch Gandhis Kritik herausgefordert wurde. In einer erfrischend einfühlsamen Art erklärt der Autor die mittelbaren Verstrickungen der Moderne mit der Religion, der Geschichte mit Gewalt und der Identitätspolitik mit kulturellen Phänomenen (einschließlich Kunst, Musik und Literatur) Gegen Ende folgen einige einleuchtende Kommentare zu Indiens Experimenten in der Demokratie und seiner gegenwärtigen Rolle in der globalen "Arena".

Hans Harder(Leiter der Abteilung für Neuere Sprachen und Literaturen Südostasiens am Südostasien-Institut (SAI) der Universität Heidelberg) bringt den LeserInnen mit seinem beeindruckenden Beitrag in einer beachtlichen tour d´horzondie Entwicklung, Verbreitung und Verbindung der großen Neusprachen (aus einer Fülle von ca. 400-500 erfassten Sprachen) während des vernacular millennium von einem historisch soziokulturellen Standpunkt aus näher. Das linguistische Netzwerk von Sanskrit und Persisch wird ebenso tangiert wie die hegemoniale aber zugleich belebende Rolle, die das Englische und die koloniale Moderne auf philologische und kulturelle Entwicklungen (speziell durch die Printmedien und einflussreiche literarische Vorbilder) hatten. Daneben werden die bedeutenden Auswirkungen dieser durchgreifenden Prozesse auf religiöse und identitäre Bewegungen weitreichend untersucht.

Thematisch verwandt ist der dritte Artikel von Michael Bergrunder (Professor für Religionswissenschaft und interkulturelle Theologie in Heidelberg), der in einem innovativen Beitrag die konventionelle religiöse Historiographie anficht, indem er die bisher angenommene deutliche Abgrenzung zwischen hinduistischen und muslimischen kulturellen Sphären in Frage stellt. Höchst überzeugend und mit akribischer philologischer Sorgfalt unterstreicht Bergrunder die synergetische Interaktion zwischen der brahmanischen Sanskrit-Tradition und der persischen Gelehrtenwelt . Durch das Anführen prominenter Gelehrter des 16. und 17. Jahrhunderts und das Hervorheben intellektueller Errungenschaften sowohl aus dem brahmanischen Milieu als auch grandioser persischer Übersetzungsprojekte zum Korpus religiös-philosophischer Sanskrit-Texte, zieht der Autor die Aufmerksamkeit der LeserInnen nicht allein auf die ausgeprägte vielsprachige Kompetenz der intellektuellen Elite im frühmodernen Indien, sondern auch auf die hochproduktive intellektuell-kulturelle Verflechtung, die unter der Mogulherrschaft ermöglicht wurde. Zusammengefasst schafft er einen heilsamen Abstand von der gegenwärtigen ideologischen Debatte und wird so hoffentlich intensivere Forschungen einleiten, die undifferenzierte Behauptungen eines historisch-genealogischen Antagonismus zwischen Hindus und Muslimen dekonstruieren.

Der vierte Beitrag von Milinda Banerjee (ein junger aufstrebender Historiker an der Presidency Uni-versity Kolkata, promoviert am SAI Heidelberg) verknüpft auf geschickte Weise aktuelle globalge-schichtliche Debatten über sozioökonomische Entwicklungen im kolonialen Indien mit gewonnen Erkenntnissen aus der Fallstudie einer frühmodernen populären Volksdichtung. In der Gegenüber-stellung mit historischen Daten einer volksnahen literarischen Tradition gelingt es Banerjee, frühmo-derne bengalische Denkweisen in einem größeren diskursiven Feld zu verorten, in welchem Vergleiche mit zeitgleichen europäischen Prozessen nahegelegt, aber auch Kontinuitäten zu heutigen Kons-tellationen gesucht werden.

Der fünfte Essay von Makarand Pranjape (Professor für Englische Literatur an der Jahrwahal Nehru University, New Delhi) präsentiert eine anregend ideenreiche, maritime Perspektive auf die moderne indische Geschichte. Vom Blickpunkt zweier (weit auseinander liegender) Küstengegenden des Indischen Ozeans (Südafrika und Singapur) aus, welcher die politischen Schauplätze der beiden revolutionären Protagonisten (M.K. Gandhi und S.C. Bose) in den Fokus nimmt, zielt Paranjape darauf ab, die bislang kolonialen und nationalistischen Narrative auf kreative Art zu dekonstruieren. In einem erfrischenden Kontext dazu wird durch seine innovative Darstellung, die von erläuterndem Bildmaterial begleitet wird, eine Art "visuelle Dekolonisation" durchgeführt, die die historischen Entwicklungen Indiens in einer farbenfroh-lebendigen, asiatisch-kosmopolitischen Welt verortet, durchdrungen von postkolonialen Überlegungen.

Der zweite Block, bestehend aus fünf kurzen Artikeln, geht vornehmlich auf Konstellationen des un-abhängigen Indiens ein und beschäftigt sich mit Fragestellungen von aktueller Relevanz.
Der erste Artikel in diesem Block stammt von Partha S. Gosh (ehem. Professor für Internationale Be-ziehungen und politische Geschichte an der Jahrwahal Nehru University und am Indian Council of Social Science Research (ICSSR), National Fellow am Institut für Defense Studies and Analyses, New Delhi) und konzentriert sich auf die Politik des persönlichen Rechts in Indien. Dabei untersucht er das kontroverse Thema eines subkontinentalen Familienrechts, das seit der Kolonialzeit und bis heute nicht in einer einheitlichen Art und Weise etabliert wurde. Gosh hebt die politische Brisanz für eine konstitutionelle Demokratie hervor, die ein einheitliches Recht, aufgrund verschiedener Rechtstraditionen oder gesellschaftlicher Konventionen (speziell für Hindus und Muslims, aber auch für Christen, Parsen, Sikhs, Jains und Buddhisten) für Heirat, Scheidung, Erbfolge, Adoption, Vormundschaft, Unterhalt etc., weiterhin nicht kodifiziert hat.

Eine damit verbundene Debatte über den Status der Frau in der indischen Gesellschaft ist das Thema des nächsten Artikels von Debotri Dhar (Research Fellow und Dozentin im Gender-Studies-Program der University of Michigan, Ann Arbor) Primär behandelt sie die Zeit nach der Unabhängigkeit, jedoch verfolgt sie auch das problematische koloniale Erbe und dekonstruiert gleichzeitig pauschale, kli-scheebeladene westliche Kritik an der elenden (Not)lage der indischen Frauen. Dhar plädiert in ihrem Artikel für eine differenzierte konzeptuelle und empirische Analyse von Geschlechterverhältnissen, sexueller Gewalt und politischer Ökonomie in Indien sowie über Staatsgrenzen hinweg und erklärt zu diesem Zweck die Entbehrungen der Frauen durch diskriminierende gesellschaftliche Konventionen wie auch durch globale Kommerzialisierung.

Dies führt hin zum dritten Artikel dieses Blocks von Wolfgang-Peter Zingel (langjähriger Fachspezialist für Wirtschafts- und Entwicklungspolitik am SAI Heidelberg sowie Visiting Fwllow der Academy of International Studies, Jamia Milia Islamia, New Delhi), der in einer tour de force von der späten Ko-lonialzeit bis zum heutigen Tag einen sachlichen, aber ernüchternden Überblick über Indiens Entwick-lungsplanung und Wirtschaftspolitik gibt. Seine Beurteilung, dass Indiens geplante Wirtschaft ein gescheitertes Unternehmen darstellt, stellt nicht nur Indiens Status als globale Wirtschaftsmacht radikal in Frage, sondern rechtfertigt zu einem gewissen Teil auch die durch Premierminister Modi kürzlich erfolgte Auflösung der veralteten "Planing Commission" Aber ob ein demokratisches und effizientes System einer distributiven Justiz das entscheidende Element einer ― dringend benötigten ― Sanierung der Wirtschaftspolitik sein wird, bleibt am Ende der Untersuchung eine offene Frage.

Dieser Aspekt wird von Mahendra Pal Singh (Professor für Indian and Constitutional Comparative Law, New Delhi) und Souvanik Mullick, Doktorand der Rechtswissenschaft und Soziologie an der Universität Yale, New Heaven) aus der Perspektive der sozioökonomischen Rechtswissenschaft aufgegriffen. Während sie Indiens Schwierigkeiten anerkennen, die weitverbreiteten sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten (erwiesenermaßen zum Teil ein Überbleibsel des kolonialen Erbes) zu überwinden, wird die positive Rolle von Gesetzesreformen und gerichtlichen Institutionen bei der Milderung dieser Ungerechtigkeiten unterstrichen, wenngleich eine dringende Notwendigkeit für durchgreifende Reformen als politische Verantwortung gesehen wird.

Daher erscheint es unverzichtbar und unumgänglich, dass sich im letzten Artikel Christian Wagner (Politikwissenschaftler mit einem Schwerpunkt auf Südasien und Senior Fellow bei der Stiftung Wis-senschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin), in einem klaren und stringenten Stil, mit der Analyse der Innen- und Außenpolitik Indiens seit der Unabhängigkeit befasst. Er beginnt mit einer kritischen Untersuchung der Parteienlandschaft und behandelt darauf aufbauend soziale, ökonomische und politisch-identitäre Probleme, sodass er in seinem kurzen Exposé für die deutschen LeserInnen eine Quadratur des Kreises vollbringt.

Außerhalb des Indien-Schwerpunktes widmet sich ein grundlegender Beitrag von Salvatore Babones (Associate Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der University of Sidney) der "Weltsystemana-lyse" im Spannungsfeld zwischen Theorie und praktischer Perspektivierung. Auch einzelne Konzepte wie Halbperipherie, Hegemonie oder Kondratiev-Wellen werden kritisch erörtert.
In den Rezensionen werden Bücher über Nationsbildung im postkolonialen Algerien, die post-sowjetische Transformation in Slowenien und Litauen, die Geschichte der frühen Globalisierung ab dem 16. Jahrhundert und die Bewegung bündnisfreier Staaten vorgestellt.

Die obige Übersicht dient schließlich nur als struktureller Rahmen zur Kontextualisierung der einzelnen Beiträge, deren thematischer Fokus in weiteren Ausgaben der ZWG ergänzt werden könnte (z. B. mit Diskussionen zu Themen wie Bildung, Medien oder Umweltproblemen, um nur einige prominente Bereiche zu benennen, die für ein besseres Verständnis des gegenwärtigen Indiens unerlässlich sind).

Die vorliegende programmatische Initiative wurde ermöglicht durch Hans-Heinrich Noltes unermüdliche Anregung, Jens Binners technische Expertise und die Unterstützung der Übersetzer Michael Bertram, Ellen Kattner und Hina Günkel sowie nicht zuletzt auch meiner (in der Abteilung Geschichte am SAI der Universität Heidelberg beschäftigten) studentischen MitarbeiterInnen Sandra Hanauer, Elisa Köhnlein, Marius Lüdicke und Hannah Bley ―meine dankbare Anerkennung an alle.

Gita Dharampal-Frick

Table of contents

INHALT

Faisal Devji
Indien: Nationalstaat oder Zivilisation?

Hans Harder
Die südasiatischen Neusprachen im vielsprachigen Kontext des indischen Subkontinents: ein historischer Abriss

Michael Bergrunder
Persische Gelehrsamkeit und brahmanische Sanskrit-Tradition im Mogulreich

Milinda Banerjee
Besitz, Widerstand und globale Geistesgeschichte im Spiegel des Chandimangal aus dem frühmodernen Bengalen

Makarand R. Paranjape
Fließende Räume: Indien in der maritimen Vorstellung

Partha S. Ghosh
Die Politik des persönlichen Rechts in Indien

Debotri Dhar
Indiens "Töchter": Frauenfragen seit der Unabhängigkeit

Wolfgang-Peter Zingel
Entwicklungsplanung und Wirtschaftspolitik im unabhängigen Indien

Mahendra Pal Singh / Souvanik Mullick
Die Entstehung der sozialökonomischen Rechtswissenschaft in Indien verstehen

Christian Wagner
Politische Entwicklungen in Indien seit der Unabhängigkeit

Salvatore Babones
Was "ist" Weltsystemanalyse? Unterscheidung zwischen Theorie und Perspektive

Rezensionen

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29.04.2016
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