Editorial
Mit der vorliegenden Ausgabe beschließt die Zeitschrift für Weltgeschichte nicht nur ihren 19. Jahrgang, sondern manifestiert auch eine Zäsur in ihrer Geschichte. Nach rund zwei Jahrzehnten findet endgültig der an verschiedenen Stellen angekündigte Wechsel in der Herausgeberschaft statt. Hans-Heinrich Nolte, der die ZWG zur letzten Jahrtausendwende aus der Taufe hob, hat sie bis zum Herbst 2018 – sei es als Hochschullehrer, sei es als nicht minder aktiver Emeritus – unermüdlich betreut und weiterentwickelt. Nun ist es auf Beschluss des Herausgeberkreises an mir, das längst erwachsen gewordene Projekt geschäftsführend zu übernehmen und in die ausgesprochen großen Fußstapfen zu treten – in der Hoffnung, dass diese anspruchsvolle Übung gelingen möge.
Es war Hans-Heinrich Nolte, der die Weltsystemtheorie in den deutschsprachigen Raum brachte, als welthistorische Perspektiven noch wenig bis gar nicht in der hiesigen Geschichtswissenschaft verankert waren. Die Gründung einer Zeitschrift und eines Vereins, der sich bis heute trägt, waren ein wesentlicher Beitrag dazu, solche Ansätze auch in Deutschland oder Österreich zu verbreiten. Folgerichtig finden sich die deutschen Übersetzungen grundlegender Beiträge von Immanuel Wallerstein, Johan Galtung oder Shmuel Eisenstadt in den ersten Ausgaben der ZWG. Aber nicht nur das – die Zeitschrift entwickelte sich schnell zu einem wichtigen Forum für Welt- und Globalgeschichte aller Spielarten. Sie bietet heute eine große wissenschaftliche, auch interdisziplinäre Bandbreite und Raum für kontroverse Diskurse auf akademischem Niveau.
Hans-Heinrich Nolte gilt also mein besonders herzlicher Dank aller an der ZWG Beteiligten im Herausgeberkreis, in der Redaktion, im Verein, im Verlag, und unter Sympathisanten. Diesem schließe ich mich auch ganz persönlich an. Ohne sein Wirken gäbe es längst kein deutsches Fachjournal für Weltgeschichte mehr, ohne seinen offenen, freundschaftlichen und herzlichen Umgang mit allen Kolleginnen und Kollegen nicht mehr den Zusammenhalt, der das Projekt ZWG trägt. Glücklicherweise bleibt er der Zeitschrift als Mitherausgeber erhalten. Wir brauchen also nichts vermissen und hoffen, dass dies noch viele Jahre so bleiben wird.
Ich selbst bin Anfang 2016 auf Empfehlung von Hans-Heinrich Nolte in den Kreis der Herausgeber und Herausgeberinnen aufgenommen worden und fühle mich dem vorgefundenen Erbe wie auch seiner Fortentwicklung verpflichtet. Als Leiter des Lehrgebietes Europa und die Welt an der FernUniversität Hagen, bin ich in einem Bereich tätig, welcher der Ausrichtung der ZWG in hohem Maße entspricht. Eigene Arbeitsschwerpunkte (die sich derzeit um den Islam im imperialen Kontext, der Verflechtungsgeschichte des Indischen Ozeans und die Gesellschaftsgeschichte des südlichen Afrikas ranken) sowie die Rückbindung an den Forschungs- und Lehrbetrieb am Historischen Institut der FernUniversität bringen es sicherlich mit sich, dass zukünftig der eine oder andere neue Akzent einfließen wird. Die bewährte Ausrichtung der Zeitschrift bleibt jedoch davon unberührt.
Zukünftig streben wir an, mehr als bislang Themenhefte zu publizieren, die größere Zusammenhänge herstellen und aktuelle Debatten in Wissenschaft und Öffentlichkeit aufnehmen. Ungeachtet dessen soll stets Platz für eigenständige Beiträge bleiben. Wir freuen uns jederzeit über die Zusendung neuer Aufsätze und Debattenbeiträge. Alle Texte, ob theoretisch oder Fallstudie, ob global oder lokal in welthistorischen Zusammenhängen, sind uns willkommen. Weiterhin werden sie in einem Peer Review Verfahren begutachtet und im Falle der Annahme von unserer bewährten Redaktion für die Veröffentlichung vorbereitet.
Das vorliegende Heft kommt noch ohne thematischen Schwerpunkt aus. Stattdessen bildet es ein breites Spektrum ab, das von übergreifenden theoretischen Betrachtungen über empirische Detailstudien bis hin zu historiographischen Positionen reicht. Damit zeigt die ZWG einmal mehr die Bandbreite einer modernen Welt- und Globalgeschichte auf, der wir uns verpflichtet fühlen.
Die Tradition der Weltsystemforschung in der ZWG setzt Andrea Komlosy im ersten Beitrag dieser Ausgabe fort. Sie widmet sich dem Katastrophencharakter von Wirtschaftskrisen, der keineswegs auf das Ökonomische beschränkt bleibt, sondern Auswirkungen auch auf die sozialen und politischen Sphären hat. Als Einordnungsrahmen für globale Krisen verwendet sie die „langen Wellen“ der Konjunktur nach Nikolai Kondratieff, die ein Modell zur Erfassung des zyklischen Verlaufs der kapitalistischen Wirtschaft bieten. Die Integration dieses in der Anlage statischen und eurozentrischen Modells in die Weltsystemanalyse erfordert einige Modifizierungen, die diskutiert werden. Im Rahmen eines Vergleichs der Weltwirtschaftskrisen von 1873, 1929/31 und 1973/74 werden Krisen als immanente Mechanismen im Weltsystem betrachtet und im Kontext von langen Wellen, Neuordnung von Zentren und Peripherien sowie hegemonialem Wandel betrachtet. Die Autorin kommt zu der Empfehlung, Krisen zum Ausgangspunkt von Überlegungen zu solchen Optionen zu machen, die sich an den Bruchstellen der historischen Entwicklung eröffnen und hegemonialen Wandel bestimmen.
Auch die Verkehrsgeschichte wird in der ZWG immer wieder thematisiert, was wir in dieser Ausgabe mit einem Betrag zur globalen Luftfahrt in rechtshistorischer Perspektive fortsetzen. Dietrich W. OTTO greift dabei ein großes Thema in einem umfassenden Überblick auf. Ausgehend von der frühen Entwicklung des nationalen Luftrechts in Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und den USA. Wird die internationale Entwicklung der ersten Jahrzehnte Luftfahrtgeschichte nachvollzogen, insbesondere in institutioneller Hinsicht. Analysiert werden Institutionen und Konferenzen, welche die Grundlage für internationale Konventionen schufen, die 1944 in der Konferenz von Chicago gipfelten. Mit der dort beschlossenen Convention on International Civil Aviation entstand der erste grundlegende völkerrechtliche Vertrag zum globalen Luftverkehr, der ein umfassendes Regulierungsregime ermöglichte.
Dass sich Weltgeschichte auch im Lokalen widerspiegelt, zeigen die nächsten beiden Beiträge. Zunächst stellt Julia HARNONCOURT mit der brasilianischen Trabalho escravo einen zeitgeschichtlichen Fall unfreier Arbeit vor, der auf die globalen Zusammenhänge der Arbeitsgeschichte verweist. Sie untersucht am Beispiel der peripheren Provinz Pará, wo der multinationale Konzern Vale die Roheisenproduktion einschließlich der Transportinfrastruktur kontrolliert, eine neue Form der Sklaverei nach dem ersten Weltkrieg. Die Produktion in Pará steht am Anfang zahlreicher Produktionsketten auf globaler Ebene bis hin zur Automobilindustrie. Die Auslagerung von Produktionsschritten erleichtert hier unfreie Arbeitsverhältnisse jenseits der Kontrollmechanismen, die wiederum durch die lange Tradition der Sklaverei in Brasilien begünstigt werden. Der Beitrag erklärt diese spezifische Situation mit dem Begriff fronteira amazonica, der die Grenze zwischen Moderne und Tradition beschreibt, auf deren einer Seite unfreie Arbeit ausgelagert wird, um Rohstoffe für weltmarktorientierte Produktionen zu gewinnen.
Ricardo Márquez GARCÍA führt im nächsten Beitrag zurück ins 19. Jahrhundert. Mit der Geschichte jamaikanischer baptistischer Missionare, die am Vorabend des deutschen Kolonialismus in Kamerun tätig waren, spricht er einen wichtigen transkulturellen Aspekt der Missionsgeschichte an. Diese ist hier nicht mehr nur Teil der europäischen Expansionsgeschichte, sondern ein wesentlicher Beitrag zu einer globalen entangelt history. Ausgehend von der Erinnerungskultur, welche die Vielfalt der Missionare im Feld zumeist außer Acht lässt, und auf der Grundlage selten beachteter Quellen werden exemplarisch die Lebenswege von zwei Missionaren aus Jamaika und ihr Einfluss auf die Einordnung einer einheimischen Kirche nachgezeichnet. Damit bricht der Autor die im Diskurs dominanten, hegemonial konstruierten Dichotomien auf und beleuchtet die Zwischenräume, die sich in der kolonialen Situation stets eröffnen und hybride Erscheinungsformen ermöglichen. Der Beitrag ist ein wichtiger Baustein einer transnationalen Christentumsgeschichte des globalen Südens.
Zum Ende der 100jährigen Wiederkehr des Ersten Weltkrieges erlaube ich mir selbst, noch einmal einen kritischen Blick auf einen Aspekt zu werfen, der die Kriegspolitik des deutschen Kaiserreichs im Weltkrieg mit der islamischen Welt in Verbindung brachte: die sogenannte „Dschihadisierungspolitik“. Gerade zum Weltkriegsgedenken war dieses Thema wieder in vieler Munde, – journalistisch wie wissenschaftlich – und teilweise unter allzu reißerischen Titeln wie dem beliebten Schlagwort „Dschihad des Kaisers“. Die besondere Aufmerksamkeit ist nicht zuletzt der aktuellen Bedrohungssituation durch dschihadistische Gruppen geschuldet, die zu einem allgemein gebräuchlichen, essentialistischen Dschihad-Begriff und zu gewagten Kontinuitätsannahmen geführt hat. Es lohnt sich daher, die Orientpolitik des Kaiserreichs noch einmal vor dem Hintergrund der historischen Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts und einer Historisierung des Dschihad-Begriffs neu zu beurteilen.
In der Kategorie Review ist aus einer Buchbesprechung von Harald KLEINSCHMIDT eine grundlegende Beleuchtung der Forschung zur frühen Geschichte des Rassismus geworden. Thematisiert wird dabei vornehmlich die Entstehungsphase eines „wissenschaftlichen“ Rassismus im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Der Beitrag fordert ein, die Genese eines solchen Rassismus als Bestandteil einer Verwissenschaftlichung des Denkens und im Kontext der Dynamisierung europäischer Weltwahrnehmung zu analysieren. Wie gewohnt schließen einige Rezensionen die aktuelle Ausgabe ab.
Schließlich ist noch auf zwei Nachlässigkeiten hinzuweisen, die uns in den letzten Ausgaben unterlaufen sind. In Heft 19.1 wurde die Replik auf die Rezension von Jens Binner im vergangenen Heft versehentlich ohne Autorennamen abgedruckt. Dass es sich bei dem Verfasser der Replik um Hannes HOFBAUER handelt, sei hiermit ausdrücklich nachgetragen. Zudem wurden in Ausgabe 18.2 im Beitrag von Eirini ANASTASIADOU zwei falsche Karten eingefügt. Die richtigen Versionen finden sich nun am Ende dieses Heftes als Nachtrag. Wir bedauern die beiden Fälle sehr und bitten um Nachsicht.
Nun bleibt mir nur noch, mich bei allen bislang und zukünftig Beteiligten an der Zeitschrift für Weltgeschichte sehr herzlich zu bedanken. Ich freue mich auf eine fruchtbare Zusammenarbeit und hoffe auch in Zukunft auf eine inspirierende Zeitschrift.
Jürgen G. Nagel
INHALT
Andrea KomlosyKrisen, lange Wellen und die Weltsystemtheorie
Dietrich W. OttoGlobalisierung des Rechts. Regulierungsregime Luftrecht
Ricardo Márquez GarcíaJamaikanische Missionare an der kamerunischen Küste am Vorabend der deutschen Kolonisierung (1844–1847)
Julia HarnoncourtTrabalho escravo im Amazonasgebiet. Peripherisierung, unfreie Arbeit und Weltmarkt
Jürgen G. NagelAls der Kaiser den Dschihad erfand. Zur „Revolutionierung“ des islamischen Orients durch das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg
Harald KleinschmidtReview: Zum Stand der Forschung über den Rassismus im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Rezensionen
Nachtrag zur Ausgabe 18.2
Autorinnen und Autoren